Alphaebene

Der Langenbeckhacken, die Knochenhohlmeisselzange, die Kralle, die 8er Zange, die Bajonettzange die Wurzelzange, die Hedströmfeilen, die Exipationsnadeln, der Kerrhandbohrer, die Heidemannspatel und die Knochenfräsen. Vor allem die. Der Patient kennt die Namen der Werkzeuge nicht, die auf der Tasse liegen. Meistens ist es ja gerade Namenloses, das uns den größten Schrecken einjagt. Ein Bohrer aber ist ein Bohrer und eine Fräse eben eine Fräse. Sie ist – was der Patient als passionierter Heimwerker weiß – ein zerspanendes Werkzeug, kann zur Bodenbearbeitung, für Putz und Beton, aber auch zur Schneeräumung eingesetzt werden. Die Tatsache, dass sie aus Vollbartmetall ist, wie die im Wartesaal aufliegende Fachzeitschrift mit großer Sachkenntnis und fachmännischer Begeisterung feststellt, wassergekühlt wird, und sogar eine Wiederanlaufsperre nach Stromausfall hat, kann da nicht wirklich beruhigen.

Angesichts aber der nur atemweit entfernten Fräsköpfe, deren Drehzahlkonstanthaltung mittels eines Tachogenerators gewährleistet wird, spiegeln sich jetzt seine weit aufgerissenen Augen im Plexiglas der Schutzbrille. Sie brauchen keine Angst zu haben, sagt die leicht verzerrte und eher an ein Navi erinnernde Stimme, während der Motor angeworfen wird und die Fräsköpfe zu rotieren beginnen. Die Stimme klingt professionell. Ganz so, als wüsste sie, worauf es bei einem Angstpatienten ankommt. Die ihm gestellten Fragen waren sachlich, die Diagnose kurz und prägnant, und wenn es noch Restzweifel gab, sind sie mit einem Handspiegel ausgeräumt worden, der ihm Einblick auf die kariösen Ruinen seiner zwei Backenzähne gewährt hat.

Während er bis jetzt die schweißnassen Hände im Schoß wie zum Gebet gefaltet hat, klammert er sich nun an die in grünem Pastellton gehaltenen und mit luftdurchlässigem und abriebfestem Kunstleder überzogenen Stuhllehnen. Die modernen Zahnarztstühle wurden alle nach neuesten ergonomischen Gesichtspunkten konzipiert, um den Patienten Komfort und dem Zahnarzt eine einfache Bedienung zu bieten. Dieser soll sich nämlich voll auf seine Arbeit konzentrieren können, und sich nicht noch mit technischem Firlefanz abmühen müssen, um – wie in seinem Falle jetzt – die für den vorgesehenen Eingriff richtige Reihenfolge zahnärztlicher Behandlung einhalten zu können. Wie aber soll jemand, der nicht nur in seiner Bewegungsfreiheit – das Instrumententablett ist auf Kinnhöhe -ziemlich eingeschränkt ist und mit weit aufgerissenem Maul nur noch über die Augen kommunizieren kann, den behandelnden Arzt darauf aufmerksam machen, dass er zuerst sediert zu werden wünscht, bevor eine Knochenfräse trotz Sanftanlaufs über eine Fußschaltung in Betrieb gesetzt wird? Der behandelnde Arzt aber hat – wie sich jetzt gottlob herausstellt – nur prüfen wollen, ob sie auch betriebsbereit ist, da in der Zwischenzeit von der Assistentin die Spritze aufgezogen worden ist.

Fast schon wäre der Patient eingestimmt gewesen in das Unvermeidliche, hätte sich der Mann in dem weißen OP-Mantel den sicherlich gutgemeinten Hinweis erspart, dass es natürlich in ganz seltenen Fällen vorkommen kann, dass einem die gesamte Gesichtshälfte nach einer Lokalanästhesie einschlafen kann. Man spreche dann von einer reversiblen TrigeminusParese. Falls das geschehen sollte, würde man aber irgendwann trotzdem wieder volle Kontrolle über sämtliche Gesichtsfunktionen haben. Das ist tröstlich.
Die horizontale Lage verstärkt das Gefühl des Ausgeliefertseins. Knallhart brennt einem der auf das Gesicht fokussierte Scheinwerfer ein Loch in die geschlossenen Augen. Die mit Watte ausgestopften Backen, die unterpolsterte Zunge, der im Mundwinkel eingehakte Speichelsauger, die Assistentin, die ihn alle Augenblicke zum Ausspucken ermuntert, das alles ist nur sediert zu ertragen.

Spritze und Ganzraumbeschallung mit Alphafrequenzen beginnen endlich zu wirken, und er kann das Geräusch der rotierenden Fräsköpfe in einen Düsenjäger umdeuten, – weiße Runen auf den blauen Himmelgrund malend -, der weit oben zwischen den Ästen alter Buchen hindurch leuchtet, Lichtschneisen schlagend. Wald. Moosweicher Boden, morsche Zweige, die unter seinen Füßen zerbrechen. Friede. Seelenrast. Nichts mehr denken, nur noch wahrnehmen. Das Harz riechen, die Äste zur Seite biegen, das Nachschnalzen spüren, das Gepeitscht- und Gestreicheltwerden. Forststraßen suchen und sie findend wieder meiden, allein sein, ungestört, den Sinnen sich ausliefernd und der Ohnmacht, in die er jetzt gefallen ist.

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1 Comment
  • Rainer Hostnig
    Posted at 18:45h, 07 April Antworten

    Hmm, sowas wird auch mal auf mich zukommen, fürchte ich.. Gut nachvollziehbar, wie Du es beschrieben hast.

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