Zum Rand der Welt: Tuschetien

Endlich ist es soweit. Wir brechen auf nach Tuschetien, dem „Land der wilden Freiheit“, wie ein anderer Reisebericht titelt, oder, um es nicht als erster noch dramatischer zu formulieren: „ans Ende der Welt“. Übertreibungen? Die Region im Nordosten Georgiens direkt an den Südhängen des Großen Kaukasus spart – wenn ich durch die Seiten zappe, über die ich etwas über diesen Teil Georgiens erfahren will – wahrlich nicht an Superlativen. Beginnen wir mit der als „death road“ gefürchteten Reise über den Abanopass, der auf beinahe 3000 m gelegen, Kachetien von Tuschetien trennt.

Wir sind mit Georgi in einem 4WD Toyota unterwegs. Ohne Allrad ist diese erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts angelegte Piste nicht zu bewältigen und stellt jeden Fahrer auf die Probe. Wir haben Glück. Georgi hat den Pass schon unzählige Male bezwungen. Da mein Russisch genauso wenig ausreicht wie seine Englischkenntnisse, während dieser Rodeo-Geländefahrt Konversation zu betreiben, kann er sich vollends auf die am Wegrand mit Marterln gesäumte Piste konzentrieren. 2200m Höhenmeter windet sie sich in Serpentinen hinauf. Nur 4 Monate befahrbar, muss auch in diesem Zeitfenster jeden Augenblick damit gerechnet werde, dass Muren, Steinlawinen, Schnee oder heftiger Regen eine Weiterfahrt unmöglich machen.

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Georgi, der in der ehemaligen DDR als Fahrer von Militärlastwagen gedient hat, scheint sich auf dem Sitz des Toyotas wie auf dem Sattel eines Pferdes zu fühlen. Lässig mit einer Hand das Lenkrad wie eine ServoLenkung bedienend, führt er mit der anderen – öfter als uns lieb ist – Telefonate auf dem Smartphone oder lässt sie aus dem Fenster hängen, um hie und da aufs Blech zu klopfen, als würde er die Flanken eines imaginären Pferdes zu Höchstleistungen antreiben wollen. Oftmals das Kreuz schlagend immer am Abgrund entlang, der ohne jede Sicherung, also vollkommen barrierefrei, abrupt und randlos, was die Beifahrer, die seit Ewigkeiten keine Kirche mehr besucht haben, zwingt, leise Gebete zu sprechen. Am Pistenrand sehen wir ausgerissene Lastwagenachsen, vom Rost zerfressene Straßenfahrzeuge und Strommasten, die ohne Funktion daliegen oder stehen, als wären es  Zeugen und Mahnmale der Vergeblichkeit menschlichen Tuns.

Almabtrieb Abanopass

Immer höher hinauf schraubt sich die „death road“ zum Pass. Jetzt kommt uns ein nicht endenwollender weißer Strom entgegen; angeführt von einem majestätisch einherschreitenden Ziegenbock folgt in Respektabstand eine Herde von nicht zählbaren Schafen. So werden wir Zeugen einer der spektakulärsten Tierwanderungen der Welt; diese finden jedes Jahr statt, seit die kachetischen Könige den Tuschen im 17.Jhdt. – zwischenzeitlich deportiert und wieder angesiedelt – zum Dank für die Verteidigung des Grenzlandes das Weideland in der Tiefebene schenkten. Georgi hupt sich durch das Heer der Schafe, die von Hirten auf Pferden mit ihren Schäferhunden gegen Überfälle von Wölfen, Schneeleoparden, Lämmergeiern und Bären gesichert und angetrieben werden. Die Hunde im Hohen Kaukasus sind so gezüchtet, dass sie sich von den Schafen kaum unterscheiden, damit sie von deren Fressfeinden nicht gleich erkannt werden und diese sich in Sicherheit wiegen, einen Überfall wagen zu können. Kaum ist dieses Hindernis überstanden, geraten wir in eine Nebelsuppe. Wir wissen nicht, ob wir uns freuen oder noch mehr fürchten sollen. Freuen darüber, dass wir von den Abgründen nichts mehr sehen müssen und Furcht davor, wegen der fehlenden Sicht erst recht in einem solchen unser Grab zu finden. Gleich zu Beginn der Fahrt hat uns Georgi darüber belehrt, dass es keinen Sinn macht, sich anzuschnallen, weil man von den Gurten entweder erwürgt wird, oder sich nicht mehr ins Freie retten kann.

Endlich sind wir auf Passhöhe. Wir steigen aus, nicht um die Landschaft zu bewundern, denn der Nebel verhindert jede Sicht; wir steigen aus, um uns die Füße zu vertreten und nach dieser etwas ruppigen Ganzkörpermassage den malträtierten Knochen eine Pause zu verschaffen. Instinktiv versuchen Beifahrer nämlich mitzubremsen, was nach beinahe 2 Stunden zu Krämpfen führt, wie sich jeder denken kann, wenn die Füße unentwegt gegen die Bodenplatte gestemmt werden. Nach einer Zigarette, die wir – ohne ein Wort zu wechseln – gemeinsam rauchen, geht es weiter. Der Himmel hat in der Zwischenzeit aufgeklart und ist nun veilchenblau. In dieses Blau mischt sich das flammende Rot und leuchtstarke Herbstgelb von Baumbeständen an den sonst kahlen Flanken der Berge. Herrlich. Dass es hier auf über 2000m noch von Menschen bewohnte Dörfer geben soll, glauben wir erst, als wir ankommen. Von weitem schon sehen wir die Wehrtürme von Omalo. Georgi verabschiedet sich von uns mit dem Versprechen, uns in einer Woche wieder abzuholen und macht sich ohne Unterbrechung wieder auf den Weg zurück nach Telavi.

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