Lass sie reden, aber verschon mich damit. Ich will’s nicht hören. Es sind nur Bilder. Bilder im Kopf der anderen von einem Ich, das mir nicht gehört. Wenn man mich so sieht, soll es so sein. Ich kann es nicht ändern und will es auch nicht. Ich könnte ein Leben damit zubringen, die Bilder, die die anderen von mir haben, korrigieren zu wollen, um sie mit dem Bild, das ich von mir habe, in Deckung zu bringen. Aber ich habe kein Bild von mir. Wenn, dann ein sehr verschwommenes. Eines, das durch die ständigen Übermalungen immer undeutlicher wird. Welches Gesicht ist hinter dem Gesicht, das man im Moment seiner Aufnahme nicht sehen wollte, weil es verdrängt, überlagert wurde und ich es heute nur noch an den Rissen erkenne, die bis in die Grundierung hinein reichen? Ständig will ich den Bruch unsichtbar machen, der das erfahrene vom erfundenen Leben trennt. Übrigens will ich dir noch einmal danken, dass ich nicht selbst sprechen muss, sondern du dir die Stimme eines Mutanten borgst, der so viel besser weiß als ich, was Metamorphosen sind und wo die Dauer im Wandel zu suchen ist.
Du willst also, dass ich meine Deckung aufgebe und willst mich mit meiner Stimme sprechen lassen. Solange du meinen Namen nicht preisgibst, geht das in Ordnung. Übrigens: Ich habe nachgedacht.
Ein bisschen kann ich schon dafür, dass dieses Bild von mir in Umlauf ist. Wie man gesehen wird und wie man gesehen werden will, das bedingt einander.
Er und ich unterstellt, dass wir zwei sind. Das ist mir zuerst gar nicht aufgefallen. Aber jetzt immer öfter schaut er mir zu, wie ich mich verhalte. Das ist ganz schön anstrengend.
Wenn sich meine innere Stimme meldet, mein Er, wenn du so willst, dann bin ich manchmal nicht mehr Er und ich, sondern Er oder Ich. Meine Eltern hätten mich also Erundich oder Eroderich taufen sollen. Viel lieber aber würde ich Egon heißen. Da hätte ich es nur mit mir zu tun gehabt.
und noch etwas: Wenn wir Viktor Frankl folgen, der sich in vielen Vorträgen und Büchern Gedanken über den Sinn des Leben gemacht hat, ist das Gewesensein die sicherste Form von Sein, denn das Selbst ist ja eigentlich nicht, es wird… und fertig geworden ist das Selbst, das ein Ich war, erst im Augenblick des Todes.
Dein Sein ist Werden hier auf Erden; du wirst erst, was du bist; und wenn du stirbst, dann lebt dein Selbst in dem Gewesensein: in der Erinnerung der andern. So ist das Sein ein Wandern; ein Werde, der du bist. Erst dann sind wir gestorben und mit uns fertig worden, wenn man uns vergisst…
Das nebenbei…
Es ist sehr schwierig, von einem Menschen ein vollständiges Bild zu geben. Ich frage mich, wieweit es mir mit Erich gelungen ist. Ist oder war bei Erich das Entscheidende, dass er sehr gut aussah…ist es mir gelungen, deutlich zu machen, dass er das alles ist und war; mit allen seinen Tugenden, aber auch Eigenschaften, die man nicht auf einen Grabstein setzen könnte. Auch frage ich mich, ob ich ein richtiges Bild davon vermitteln kann, wie er den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Natürlich nahmen seine Reisen und Liebschaften Zeit in Anspruch, aber werde ich ihm gerecht, wenn von ihnen die Rede ist? Jedenfalls hoffe ich, ich habe sie nicht auf den Gedanken gebracht, dass Erich ein pathologischer Fall ist oder war. Das war, nein: das ist er nicht. Im höchsten Grade empfindsam. Ja, das schon. Aus meiner Sicht, aber was sagt das schon. Für andere ist er aus grobem Holz geschnitzt.
Die Frage, wie es mit den ersten Eindrücken ist, die man sich von einem Menschen macht, hat mich lange Zeit beschäftigt. Kann man sich im Umgang mit anderen Menschen auf diesen ersten Eindruck verlassen? Ist es ratsam? Wer schon kann sich wirklich darauf verlassen und vom Charakter eines anderen Menschen ein Bild geben. Wer auf dieser Welt weiß etwas über das Seelenleben eines andren – oder selbst über sein eigenes… Ich will damit sagen, man kann nicht einmal ungefähr abschätzen oder voraussehen, wie sich ein Mensch in jeder beliebigen Situation verhalten wird… und wenn man das nicht kann, wozu aber ist es dann von Nutzen sein, so ein Charakterbild? Vielleicht aber in der Summe? Ich frage weiter. Noch gebe ich nicht auf.
Ja, ich danke dir, dass du Erich mit deiner Anekdote um eine Facette reicher gemacht hast. Vielleicht kannst du ja das Bild, das in der Zwischenzeit von ihm entstanden ist, wieder ein bisschen zurechtrücken oder mit dem in Deckung bringen, das ich von ihm gewonnen habe. Er war oder ist ja immerhin dein Onkel?
Ich kenne Erich nicht persönlich. Wir sind Freunde auf FB und auch auf Twitter bin ich sein Follower. Ich habe auch seinen Blog abonniert. Ich schätze seine Postings. Sie werden leider immer seltener. Er hat viel über den digitalen Exhibitionismus geschrieben. Aber er beschäftigt sich auch mit dem Spiel und der Erfindung von Identitäten. In einem seiner Postings behauptet er, – kennen sie seinen Blog? Nicht? Das wundert mich, da sie sich so an ihm interessiert zeigen – er dürfte auch selbst mehrere Identitäten angenommen haben… das aber kann ich nicht bezeugen. Verschleierung und Täuschung können ihm aber seither nicht mehr angelastet werden. Ganz offen gibt er zu, dass er selbst nie auf größeren Reisen war, sondern diese erfindet, indem er die Berichte von Rucksacktouristen umschreibt, deren Fotos kopiert und neu montiert und so sich auf virtuelle Reisen begibt. Das tut dem keinen Abbruch. Es sind spannende und lesenswerte Abenteuergeschichten, die er unter dem Pseudonym ERICH unternimmt. Mit 80 Mausklicks um die Welt nennt er sie und hat sie jahrelang in Fortsetzungen geschrieben. Ein moderner Karl May, wenn sie mich fragen. Interessanter Typ.
Die Freunde, die mich zu kennen glauben, wissen von mir nichts, weil mein wahres Ich sich unzählige Male gewandelt hat. Weder die Menschen, die mich aus mir unerfindlichen Gründen für sympathisch halten, noch jene, die mit mir nichts oder nichts mehr zu tun haben wollen, wussten je oder wissen, mit wem sie es zu tun hatten oder jetzt noch haben. Niemand hat mit mir in eine feste Beziehung treten können, weil ich ununterbrochen meine Persönlichkeit auslösche.
Ich bin nicht, für den man mich hält. Ja, ich habe Fehler gemacht. Es geht schnell – das Leben. Viel ist nicht geblieben von dem, was ich behaupte, gut in Erinnerung zu haben, als wäre es gestern gewesen, und das, was ich erinnere, liegt immer weiter zurück. Ein bruchstückhaftes und belangloses Nichts. Beinahe so, als wäre das Nichts, das auf mich, das auf uns alle wartet, die Summe aller gelebten, aber vergessenen Augenblicke und der ganze Reichtum genossener oder einfach nur verbrachter Jahre. Immer noch besser, man denkt, das falsche Leben gelebt zu haben, als gewusst, dass es das richtige nicht gibt.
Identitäten von Erich
Großvater Onkel Ehemann Ottakringer Wiener Österreicher Eingeborener Europäer Beamter Arbeitnehmer Arbeitskollege Arbeitsloser Sozialhilfeempfänger Vater Bürger Staatsbürger Bundesbürger Weltbürger Grüner Roter Marxist
Materialist Nihilist Minimalist Existenzialist Kosmopolit
Monarchist Royalist Sozialist Kommunist Anarchist
Utopist Militarist Imperialist Pazifist Optimist
Pessimist Fetischist Masochist Sadist
Buddhist Christ Katholik Freidenker
Antroposoph Philosoph Idealist
Freigeist Atheist Agnostiker
Realist Träumer Humanist
Mensch
Ich frage dich, wie kann jemand bei der Vielzahl von Identitäten mit den zu ihnen gehörenden Rollen, die einem zufallen oder erworben werden im Laufe eines Lebens, so charakterisiert werden, dass es ihm gerecht wird?
Sowohl Erinnern als auch Vergessen sind bruchstückhaft und vielstimmig. Erinnerung und Vergessen sind mit der Gegenwart verknüpft und beeinflussen dadurch, wie wir unsere Geschichte konstruieren, welche Brüche wir erkennen und welche nicht-linearen Zeitvorstellungen möglich sind.
Es ist nichts mehr anzufangen mit ihm, seit er bei irgendeinem dieser Traditionsvereine ist: bei den Ulanen, Dargonern oder Husaren, was weiß ich. Seine Wohnung ist voll mit Requisiten. An den Wänden hängen nachgebaute Säbel, und in einer Glasvitrine sammelt er Orden. Er redet nur noch vom Piafieren. Was immer das ist und hört nicht mehr auf. Ich versteh nur Bahnhof. Er hat kein anderes Thema mehr.
Revolutionär? Dass ich nicht lache: sitzt entweder auf seinem Pferd oder vor dem Computer und studiert den Börsenticker.
Kein Freund, wie ich Freundschaft definiere; da können die Leute sagen, was sie wollen; dauernd unterwegs. Wechselt die Wohnsitze wie die Unterhosen. Ich mag ihn nicht. Früher sind wir über die Häuser gezogen und hatten unseren Spaß. Seit er wieder verheiratet ist und ein Kind hat, ist er wie ausgewechselt.
Hören Sie mir doch auf mit dem Erich. Erich, Erich Erich. Auch die Frau liegt mir dauernd mit ihm in den Ohren. Warum er sich nicht mehr rührt? Was mit ihm los ist? Als wär ich sein Bruder. aber ich bin nicht sein Bruder und ich mag ihn nicht.
Ich weiß nicht. Ja, es stimmt schon, aber…
Ich meine, das ist doch alles nicht…
Ich verrate ja nicht viel, wenn ich sage…
In der Rückschau…
Ich weiß… Ich weiß …
Fehler, wer macht sie nicht? Was nicht heißt, dass ich sie damit entschuldigen will.
Es hat sich viel angesammelt in den Jahren…
Auf meinen Reisen habe ich mich immer wieder neu erfinden können.
Vielleicht sollte ich …
Aber jetzt frage ich dich: Ist es besser man denkt, das falsche Leben gelebt zu haben als gewusst, dass es das richtige nicht gibt?
Feststeht: Ich bin nicht, für den man mich hält.
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