11 Mrz Tokaierwette
Meine Mutter hat mich zu einer Wette herausgefordert. Sie wisse zwar nicht mehr genau, in welchem Jahr das gewesen sei, aber es müsse jedenfalls lange vor dem Mauerfall gewesen sein, zu einer Zeit, als es in Berlin noch eine sowjetische Zone gegeben habe, denn in Berlin Tegel angekommen, hätte sie ein russischer Zöllner gefragt, ob sie was zu verzollen habe. Nur mein spitzes Mundwerk, soll sie geantwortet haben, woraufhin ich sie wütend angefaucht und ins Schienbein getreten hätte, weil ich befürchtet habe, dass er uns der frechen Antwort wegen aufs Revier mitnehmen und wieder heimschicken würde. Ich habe das vehement bestritten: Nie und nimmer im Leben sei ich mit ihr in Berlin gewesen. Das müsse sie geträumt haben. Sie hat nur gelacht und gemeint, das würde sich bald herausstellen, wer von uns beiden nun dement sei. Sie würde meinem Gedächtnis aber schon noch auf die Sprünge helfen. Ich habe sie daran erinnern wollen, dass es zwar in Berlin ganz sicher einmal im und nach dem Krieg eine russische Zone gegeben hatte, ich aber zu dieser Zeit mich gerade aufzurichten und ein paar Schritte zu gehen, aber noch nicht in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen gelernt hätte. Das ließ sie aber nicht gelten, denn sie sei und daran erinnere sie sich noch, als wäre es gestern gewesen, mit mir in einer Antonow gesessen, sogar daran könne sie sich noch erinnern, was ich auch als einen Beweis dafür ansehen solle, dass dieser Flug tatsächlich stattgefunden habe, wo sie doch sonst einen Flieger vom anderen nicht unterscheiden könne. Sie hätte in besagter Antonow einen Fensterplatz gehabt, und wir seien an einem Mond vorbeigeflogen, der sei so tellergroß und zum Greifen nah gewesen, wie man das sonst nur aus Filmen kenne. Sie wisse schon, dass es nicht um die Zeit gewesen sein könne, als der berühmte amerikanische Pilot die zu Weihnachten von ihm selbst gebastelten Fallschirme aus Taschentüchern, an denen Zuckerln befestigt waren, über Westberlin abgeworfen habe, an dessen Name, der aber damals in aller Munde gewesen sei, sie sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern könne, obwohl das weiter Zurückliegende von ihr besser erinnert werde als das Tagesgeschehen, was der Altersdemenz geschuldet sei. Als hätte ich das vergessen – machte sie mich darauf aufmerksam, dass sie ja immerhin schon stolze 90 Jahre auf dem Buckel hätte. Aber so etwas wie der Riesenmond müsse sich doch auch in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Jammerschade, dass es dich jetzt schon so im Stich lasse, hat sie gemeint, und wie um mich zu beschämen, was ihr damit auch gründlich gelungen war, ist ihr der Name dieses Rosinenbomberpiloten wieder eingefallen: Halverson habe er geheißen. Er habe damals viele Heiratsanträge erhalten und auch sie hätte ihn vom Fleck weg geheiratet. Dann würde sie jetzt in Amerika leben und hätte heute keine anderen Sorgen als die um ihre selbst gezüchteten Rosen auf einem großzügigen Anwesen irgendwo in Florida oder sonst wo. Der müsse jetzt auch schon ziemlich alt sein, wenn er überhaupt noch lebt, fügte sie nachdenklich hinzu. Aber ob es ein besseres Leben gewesen wäre, darüber nachzugrübeln bringe gar nichts, weil sie nun einmal dieses Leben gehabt und gelebt hätte. Jetzt jedenfalls brauche sie keinen Mann mehr. Der, der ihr davon gelaufen sei wie das Würstel vom Kraut, und hat mich dabei angeschaut, als würde sie gewohnten Widerspruch erwarten -, der habe ihr gereicht.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, habe ich ihr eine Wette vorgeschlagen. Eine Flasche Wein für den, der Recht behielte. Aber einen guten, einen Tokaier, hat sie gesagt und gelacht: Der gehöre jetzt schon ihr, hat sie gemeint, und den verloren gegangenen Faden wieder aufgegriffen: Sie wisse noch genau, dass es ihr erster Flug gewesen sei; ein Flug, den sie ohne Begleitung gar nicht angetreten hätte, und außerdem habe das Flugzeug selbst – von außen betrachtet – keinen günstigen Eindruck auf sie gemacht und auch drinnen hätte es jeden Komfort vermissen lassen, den sie bei späteren Flügen dann auch doppelt genossen habe. Den Flug habe uns meine Cousine bezahlt, die zu dieser Zeit mit ihrem Freund in Berlin gelebt hat. Dass es ein Billigflug gewesen sei, könne ich nicht anzweifeln, obwohl es zu besagter Zeit noch keine Dumpingpreise bei den Fluglinien gegeben hat. Was immer man damals unter Billigflug verstanden habe, ich müsse doch zugeben, dass sie sich selbst nie einen Flug hätte leisten können und ihn nur deshalb mit mir unternommen hätte – und zwar mit mir und mit niemandem sonst, – die Wette gelte ja hoffentlich noch -, weil ihn meine Cousine bezahlt habe, die ja schon immer eine Schnäppchenjägerin gewesen sei. Wir hätten von Berlin nichts gesehen, weil wir schon am nächsten Tag wieder nach Wien geflogen seien, und wenn ich jetzt noch immer behaupten wolle, dass sie das geträumt oder erfunden habe, dann tue ich ihr leid, denn dann sei es um mein Gedächtnis weniger gut bestellt wie um ihres. Das würde sich auch bald herausstellen, ob sie das alles nur geträumt habe, da sie gleich heute noch meine Cousine in Südafrika anrufen würde, obwohl es um das Geld schade sei, da sie dieses Telefonat wohl eben so viel kosten würde, wie die Flasche Tokaier, um die wir gewettet hätten. Daraufhin hat sie einen Stift zum Schreiben verlangt und ein Blatt Papier und hat darauf zu rechnen begonnen. Sie hat ihr Geburtsdatum aufgeschrieben und meine drei Hochzeiten und die Jahre, in denen ihre Enkel geboren worden sind, aber auch geschichtliche Daten, wie die Rede vom Kanzler Figl, in welcher er das Ende der Besatzungszeit in Österreich verkündet hatte, und auch die Mondlandung hat sie dabei nicht vergessen und den Mord an Kennedy, ein Ereignis, an das ich mich doch sicherlich noch erinnern könne, weil wir damals alle wie gebannt um das Radio gesessen seien, weil einen Fernseher hätten wir damals uns nicht leisten können. Nach einiger Zeit aber hat sie es aufgegeben, weil sie bei ihren Aufzeichnungen auf keinen grünen Zweig, sondern ins Grübeln darüber gekommen ist, was vorher und was nachher war, und wie man da in dem Drunterunddrüber von persönlich Erlebtem und geschichtlichen Ereignissen, kurzum, wie man die vielen Daten in eine Ordnung bringen könne im Kopf. Aber ich solle nur ja nicht glauben, dass ich die Wette gewonnen hätte, nur weil ich mich nicht mehr erinnern könne.
Als ich die Wette schon fast vergessen hatte, kommt Mutter triumphierend mit einer Postkarte, die sie damals aus Berlin an ihre Adresse zu Handen ihrer Katze Strizzi abgeschickt hatte. Es ist tatsächlich eine Postkarte mit einer Ansicht aus Berlin und einem Datumsstempel. Der allerdings beweist nichts, da er selbst mit Briefmarkenlupe nicht mehr zu entziffern ist. Der Briefträger, sagt sie, hätte sich gewundert und ihr nahegelegt, das nächste Mal die Karte an eine Person zu adressieren, die zum Empfang von Post berechtigt sei:
Lieber Strizzi
Bin gut in Berlin angekommen. Leider habe ich nicht viel gesehen, weil ich Heidi beim Kochen helfen hab müssen. Ich hoffe, dir geht es gut. Pass auf auf der Straße. Vermisse dich, dein Frauerl.
Ich habe dann einen Tokaier gekauft, weil es ja genügt, dass sie’s so in Erinnerung hat und ich nicht weiß, ob ich mir meine Biografie nicht auch einmal erdichte, um sie mit dem, was ich mir gewünscht hätte, in Einklang zu bringen.
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