Ich werde ihm jetzt die Haube abnehmen und ihn nach Gewas schicken. Er wird dort meinem Vater eine Botschaft bringen. Dann wird er so hoch über der Oase kreisen, dass ihn kein Pfeil erreichen kann, und wir werden mit seinen Falkenaugen den Ort unser aller Sehnsucht schauen. Wir sind eins und doch zwei, will ich gerade denken, als Keelru sich in den wolkenlos blauen Himmel schwingt und mit dem Aufwind sich in schwindelige Höhen schraubt. Nein: Wir sind drei, mein Begleiter und ich und der Vogel, und doch sind wir eins, denn ich sehe jetzt tatsächlich mit seinen Augen auch uns, die er schon so weit zurückgelassen hat, dass wir nur noch zwei schwarze Punkte sind mit blauen Tupfern, die in einem gelben Meer aus Sand zu ihm hinaufleuchten. Das sind wir. Das sind unsere Turbane. Ich will winken und ihn rufen. Mein Begleiter aber bedeutet mir zu schweigen, denn eben hat sich Keelru mit angelegten Flügeln wie ein Stein vom Himmel fallen lassen und ist auf dem Rand eines Ziehbrunnens gelandet, an dem sich eine Frau zu schaffen macht, um einen Kübel mit glasklarem Quellwasser heraufzuholen. Sie trägt ein indigofarbiges Tuch, das sie über Kopf und Schultern geschlagen hat. Der Stoff muss auf die Haut abgefärbt haben, denn alle vom Tuch nicht bedeckten Stellen ihres Körpers sind blau. Selbst ihr Gesicht. Als sie den Falken sieht, fällt ihr der Kübel aus der Hand, der laut scheppernd gegen die Ziegelwand des Brunnens stößt und dann auf dem Wasser aufklatscht. Ihre Augen leuchten vor freudiger Überraschung. Sie nimmt den Falken und setzt ihn auf ihre Schulter. Der lässt es mit sich geschehen, als würde er sie kennen. Mit schnellen Schritten geht sie auf einen Feigenbaum zu, in dessen Schatten ein alter Mann mit über-geschlagenen Beinen sitzt. Er ist blind. Seine Augen sind wie zugenäht. Während die Frau ihn in einer Sprache anredet, die ich nicht verstehe, hat es sich der Falke auf seinem Schoß gemütlich gemacht. Mit einem Wink schickt er sie fort. Jetzt nimmt er den Vogel in seine beiden Hände und führt dessen Schnabel dicht an seinen Mund. Sie reden miteinander. Ja, sie reden, aber wieder verstehe ich nichts. Er gräbt in den Taschen seiner weiten Pluderhose und fördert ein paar Hirsekörner zutage, mit denen er ihn füttert. Jetzt höre ich ein helles Lachen, das aus einem der Zelte kommt. Jemand schlägt die Matte aus geflochtenem Stroh, die für den Durchzug sorgt, zur Seite und heraus tritt eine junge Frau in einem roten Tuch mit aufgemalten Blumen. Auch sie mit blauer Haut. Ich frage mich gerade, an wen sie mich erinnert, als sich Keelru ohne Vorwarnung in die Luft erhebt. Die Frau schaut ihm lange nach. Er kreist ein- zweimal in großer Höhe über diesem friedlichen Ort, dann sucht er uns oder meinen Begleiter, und schneller als ich schauen kann, sitzt er wieder auf dem Handschuh. Als ihm die Haube aufgesetzt wird, bin auch ich für einen Augenblick blind, oder es kommt mir eben nur so vor, als wäre ich es kurze Zeit gewesen.
Ich muss für kurze Zeit eingeschlafen sein. Die Sonne brennt, als wäre schon Sommer. Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier. Die Zigarette, die ich mir noch eben angezündet habe, hat die Reste der anderen in Brand gesteckt. Der Aschenbecher qualmt. Als ich Wasser holen will, sehe ich eine Krähe, die sich von der Dachrinne in den Hof hinunterstürzt. Ihr Krächzen klingt wie das keckernde Lachen einer Greisin. Mir ist, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekommen. Aber ich weiß weder, wohin ich mich auf den Weg gemacht, noch, was ich erlebt habe. Nichts, buchstäblich nichts ist mir in Erinnerung geblieben. Ich kann es nicht einmal einen Tagtraum nennen.
Manfred Voita
Posted at 15:29h, 23 FebruarEine Geschichte voller Geheimnisse, die uns an einen fernen Ort führt, um uns von einem noch ferneren, unerreichbaren Ort zu erzählen. Ich bin dir gern gefolgt.