
21 Feb Gewas: Märchen für Tobias
Mit einem blauen Turban schützt er sich gegen Sonne, Sand und Wind. Du siehst nur seine Augen. Sie sind so schwarz wie die Räume zwischen den Sternen am Himmel, wo ihr Licht nicht mehr hinkommt. Du siehst ihn nur im Profil. Er schirmt seine Augen mit der Hand, um etwas auszuspähen. Seine Haut ist gespannt wie das Fell einer Trommel und von der Sonne gegerbt wie steinaltes Leder. Er ist auf dem Weg zur Oase Gewas. Niemand weiß, wo sie liegt, denn es findet sie nur, wer sie nicht sucht.
weiter
Ich werde ihm jetzt die Haube abnehmen und ihn nach Gewas schicken. Er wird dort meinem Vater eine Botschaft bringen. Keelru schwingt sich mit dem Aufwind in den wolkenlos blauen Himmel. Ich sehe jetzt tatsächlich mit seinen Augen auch uns, die er schon so weit zurückgelassen hat, dass wir nur noch zwei schwarze Punkte sind mit blauen Tupfern, die in einem gelben Meer aus Sand zu ihm hinaufleuchten. Eben hat er sich mit angelegten Flügeln wie ein Stein vom Himmel fallen lassen und ist auf dem Rand eines Ziehbrunnens gelandet, an dem sich eine Frau zu schaffen macht, um einen Kübel mit glasklarem Quellwasser zu schöpfen. Sie trägt ein indigofarbiges Tuch, das sie über Kopf und Schultern geschlagen hat. Der Stoff muss auf die Haut abgefärbt haben, denn alle vom Tuch nicht bedeckten Stellen ihres Körpers sind blau. Selbst ihr Gesicht. Als sie den Falken sieht, fällt ihr der Kübel aus der Hand, der laut scheppernd gegen die Ziegelwand des Brunnens stößt. Das kostbare Nass versickert im lehmigen Boden. Ihre Augen leuchten vor freudiger Überraschung. Sie nimmt den Falken und setzt ihn auf ihre Schulter. Der lässt es mit sich geschehen, als würde er sie kennen. Mit schnellen Schritten geht sie auf einen Feigenbaum zu, in dessen Schatten ein alter Mann mit übergeschlagenen Beinen sitzt. Er ist blind. Seine Augen sind wie zugenäht. Während die Frau ihn in einer Sprache anredet, die ich nicht verstehe, hat es sich der Falke auf seinem Schoß gemütlich gemacht. Mit einem Wink schickt er sie fort. Jetzt nimmt er den Vogel in seine beiden Hände und führt dessen Schnabel dicht an seinen Mund. Sie reden miteinander. Ja, sie reden, aber wieder verstehe ich nichts. Er gräbt in den Taschen seiner weiten Pluderhose und fördert ein paar Hirsekörner zutage, mit denen er ihn füttert. Jetzt höre ich ein helles Lachen, das aus einem der Zelte kommt. Jemand schlägt die Matte aus geflochtenem Stroh, die für den Durchzug sorgt, zur Seite und heraus tritt eine junge Frau in einem roten Tuch mit aufgemalten Blumen. Ich frage mich gerade, an wen sie mich erinnert, als sich Keelru eben wieder in den Himmel schraubt. Die Frau schaut ihm lange nach. Er kreist ein- zweimal in großer Höhe über diesem friedlichen Ort, dann sucht er mich, und schneller als ich schauen kann, sitzt er wieder auf dem Handschuh. Als ihm die Haube aufgesetzt wird, bin auch ich blind.
Hast du dich umgeschaut? Hast du alles gesehen? fragt mich mein Begleiter. Sei mir nicht böse, sagt er, aber ich werde dich jetzt verlassen. Ich muss weiter, aber du kannst mich jederzeit rufen und ich werde da sein. Bevor du aber wieder deine Augen öffnest, wird die Erinnerung an alles, was du gehört oder gesehen haben willst, gelöscht sein.
Er sollte Recht behalten. Ich sitze auf der Terrasse meiner Wohnung. Ich muss für kurze Zeit eingeschlafen sein. Die Sonne brennt, als wäre schon Sommer. Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier. Die Zigarette, die ich mir noch eben angezündet hatte, hat die Reste der anderen in Brand gesteckt. Der Aschenbecher qualmt. Als ich Wasser holen will, sehe ich eine Krähe, die sich von der Dachrinne in den Hof hinunter stürzt. Ihr Krächzen klingt wie das keckernde Lachen einer Greisin. Mir ist, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekommen. Aber ich weiß weder, wohin ich mich auf den Weg gemacht, noch, was ich erlebt habe. Nichts, buchstäblich nichts mehr ist mir in Erinnerung geblieben. Ich kann es nicht einmal einen Tagtraum nennen. Schade. Dabei hätte ich so gern einmal ein Märchen geschrieben.
Manfred Voita
Posted at 15:29h, 23 FebruarEine Geschichte voller Geheimnisse, die uns an einen fernen Ort führt, um uns von einem noch ferneren, unerreichbaren Ort zu erzählen. Ich bin dir gern gefolgt.