Die Rote

Wenn du zurückkommst, bist du so gut wie aufgenommen, verspricht mein Bruder, und ich schäme mich sogar, weil mir die Prüfung so leicht gemacht wird. Was soll schon schiefgehen? Ich werde – so wie ich’s gelesen habe – als Zeichen, dass ich in friedlicher Absicht komme, ein weißes Taschentuch auf einen Stecken binden und so auf die Feuersteins zugehen…

Jetzt sitze ich in einem Werkzeugschuppen im Garten der Feuersteins und warte auf meine Befreiung. Es ist dunkel und kalt. Alle wissen, dass ich hier bin. Sie werden kommen, um mich zu befreien, da bin ich mir sicher. Nur wann? Schreien? „Wenn du auch nur einmal schreist”, hat die Rote gedroht, „dann schneide ich dir die Zunge raus.” Die Rote ist der Boss der Feuersteins.

Das kommt davon, wenn man so hochnäsig ist und voraussetzt, dass andere das gleiche Buch gelesen haben. Woher soll die Rote denn wissen, dass einer mit guter Absicht kommt, wenn er ein weißes Tuch auf einen Stecken bindet? So hab ich es gelesen. Die Rote aber hasst Schule und verachtet den, der liest. Das weiß jeder. Das hätte ich doch wissen müssen. Das weiße Taschentuch? Sie hat es wohl als das gesehen, was es war: Ein Taschentuch auf einem Stecken. Was fuchtelt er damit herum?, werden sie sich gefragt haben. Während ich so dasitze und darüber nachdenke, steht plötzlich die Rote vor mir. Ich rutsche auf dem Hosenboden in den letzten Winkel. Sie lacht und sagt: „Du brauchst jetzt keine Angst mehr haben. Wir haben dir ein paar Prügel verpassen müssen, verstehst du?” Ich verstehe zwar überhaupt nicht, aber es ist schön, ihre Stimme zu hören. Als sie sich auch noch neben mich setzt und mir zärtlich durchs Haar fährt, beginne ich hemmungslos zu schluchzen. Sie bettet meinen Kopf in ihren Schoß, und ich möchte plötzlich ein Mann sein, nicht mehr weinen und kann nicht aufhören und möchte, dass niemand mehr kommt, mich zu befreien, dass nie wieder etwas, dass nichts mehr uns trennt, aber da steht sie schon wieder auf, wischt den Staub von ihrem Rock, bündelt ihr rotes Haar, das im Sonnenlicht auf funkelt und sagt nicht mehr zärtlich, sondern barsch: „Bestell deinem Bruder, dass er selber kommen soll, wenn er was will, und dass er ein Feigling ist und dass er sich ein Beispiel nehmen soll an dir!” Breitbeinig steht sie vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, dann macht sie auf dem Absatz kehrt und will davoneilen, dreht sich aber noch einmal um, fliegt auf mich zu, gibt mir einen Kuss mitten auf den Mund  – und stürzt davon.

Dass mich die Rote geküsst hat, das habe ich keinem verraten. Bis heute nicht. Auch habe ich meinem Bruder ihre Grüße nicht bestellt, obwohl es mich schon gejuckt hat. Vor allem, nachdem sie so blöd gelacht haben, als ich zurückkam. Du mit deiner weißen Fahne. Zeichen für Frieden, hä? Du hättest das Buch auf den Stecken binden sollen.

Der Kuss aber wog jede Häme auf. Jetzt, während ich schreibe, spüre ich ihn auf meinen Lippen.

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