Verschollen

  1. April

Die vorrätige Zeit, die ich einmal dachte, nicht mehr sinnsuchend verbringen zu müssen, blieb ungenutzt. Wie ein Schnellzug in der Nacht rast sie dahin, um mich an meinen Bestimmungsort zu bringen. Vorbei an Bahnhöfen, wo mich diensthabende Stellwerkleiter durchwinken, in deren Träume ich mich einschleichen will, um teilzuhaben an ihrer Welt. Schatten sind es, die mir den Rücken zukehren und nie mir ihr Gesicht zeigen. Gesichter, die von bleierner Müdigkeit gezeichnet sind, hätte ich sie sehen können. Die einzigen Lebewesen, die um diese Zeit noch wach sind und meine Schlaflosigkeit mit mir teilen, wie trockenes Brot; ausgestreut, den Weg wieder zu finden, den Weg zurück, ohne zu bedenken, dass diese Krumen Beute von Vögeln sein werden, kaum, dass ein neuer Tag beginnt. Kein Traum würde mir bleiben. Kein einziger. Nicht einmal ein Bild. Nur eine Stimmung, zu der Bilder gedacht werden konnten, um aus ihnen einen Traum zu schmieden, der auch am nächsten Morgen noch da sein würde. Immer. Und stets der gleiche, denn ich höre ihn schon wieder, den beinahe lautlosen Schlag ihrer Flügel, aber kann sie nicht sehen.

Die schönsten Geschichten schreibt das Leben, hört man, doch die unvergesslichsten der Tod, den es mit ihnen aufzuschieben gilt in tausend Nächten. Wozu sonst werden sie erzählt?

Zurück? Wohin zurück?“, fragt Gustav B. in seinem Tagebuch, dessen Aufzeichnungen spärlicher werden in seinen letzten Jahren und manchmal nur aus einzelnen Sätzen bestehen, einer Anhäufung von Banalitäten neben angedeuteten Geschichten, steinbruchartigen Rohentwürfen für einen Roman, Aufzeichnungen aus seinem Alltag, die mir als seinem Freund anvertraut worden waren, nachdem ihn ein plötzlicher Tod, dessen Ursachen im Dunkeln blieben, von unserer Seite gerissen hatte. Seine hochbetagte Mutter hatte es mir zugesteckt: Sie waren einer seiner besten Freunde. Sie haben ihn gut gekannt. Ich glaube, ich handle in seinem Sinne, wenn ich ihnen sein Tagebuch gebe. Vielleicht finden sie einen versteckten Hinweis darauf, wer dieses tödliche Spiel mit ihm gespielt hat. Dann nahm sie meine beiden Hände und schaute mir dabei fragend, aber gleichzeitig auch hilfesuchend in die Augen: Sie teilen doch hoffentlich nicht die Ansicht der Polizei? Mein Sohn ist kein Selbstmörder. War, wollte ich sagen. Ließ es aber.

Froh, der dunklen und ziemlich verwahrlosten Wohnung seiner Mutter entkommen zu sein, sitze ich nun in einem Vorstadtlokal und blättere bei einem Glas sauer schmeckendem Schankwein in seinem Tagebuch: Keine Offenbarung, wie ich schnell und zu meinem Bedauern feststellen muss. Ein Durcheinander von Notizen, plan- und schnörkellos. Aber es ist mir ja nicht anvertraut worden, um es auf seine literarische Qualität zu prüfen, obwohl sich mein Freund zeitlebens als Schriftsteller verstanden hatte, ohne je etwas veröffentlicht zu haben. Ich muss allerdings zugeben, dass mich manche Stellen in dem nun vor mir liegenden Tagebuch, aus dem ich schon zitiert habe, auf eine seltsame Weise ansprechen. Es ist ein mir unbekanntes Ich meines Freundes, das da zu mir spricht. Ich kannte ihn ja als einen lebensfrohen und lebensbejahenden Menschen…

  1. November

Immer kommt mir vor, als wäre mir der Tag geraubt. Immer ist schon Abend, mit dem er beginnt. Der einzige Anruf, den ich heute erhielt, war der einer Frau, die sich als die Gattin des Steinmetzes vorstellte, die ich unlängst aufgesucht habe, damit die Namenszüge auf dem Grabstein, die verblasst sind, wieder lesbar werden. Lesbar für wen? Das Grab meines Vaters, das auch einmal meines sein wird, schaut nicht so aus, als würde es oft besucht werden. Ich schulde es ihm und mir, dass wir wenigstens so lange erinnert werden, wie die eingravierten Buchstaben auf dem Naturstein nicht verblasst und für mögliche Besucher gänzlich unleserlich geworden sind.

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