Eine Zugreise in fotografischen Notizen

Eine Reise in fotografischen Notizen

1         Die junge Zugbegleiterin in der Uniform der österreichischen Bundesbahnen, welche die Fahrgäste begrüßt und sich Mühe gibt, vom jovial auftretenden älteren Kollegen ernst genommen zu werden…
2         Der männliche Zugbegleiter, der so tut, als würde er es bedauern, dass vom Unternehmen nicht mehr Schlaf- und Liegewagenplätze bereit gestellt wurden, sagt, während er in seinen Listen blättert: Ich kann nichts versprechen, aber vielleicht in Udine, wenn die ausbleiben, die einen Platz im Liegewagen gebucht haben.  Aber – wie gesagt: Ich kann’s nicht versprechen…
3         Der reservierte Sitzplatz 106 im Waggon 405, der ein Fensterplatz ist…
4         Der auf einen Platz im Liegewagen hoffende Fahrgast, der die 6 Sitzgelegenheiten mit einer vierköpfigen chinesischen Familie teilt, die begonnen hat, sich auf die Nacht und die lange Fahrt vorzubereiten…
5         Der noch freie Sitzplatz, der dem chinesischen Vater als Fußstütze dient.
6         Alle Insassen, auch das vier- oder fünfjährige Kind, die mit Smartphones, Tablets und Notebooks beschäftigt sind.
7         Dem nichtchinesischen Fahrgast – von allen Seiten eingekeilt –, dem  die Mutter gegenüber sitzt, die sich – ebenso zugestöpselt wie die anderen – ein chinesisches Movie anschaut.
8         Ein indischer Jugendlicher, der  verzweifelt Einlass begehrt und in englischer Sprache auf den noch nicht reservierten Sitz hinweist, dem die Insassen des Abteils mit Blicken begegnen, die signalisieren sollen, dass sie ihn und sein Begehr nicht verstehen.
9         Der indische Jugendlich, der mit seiner Schwester zurück kommt, die es noch einmal versucht und erst aufgibt, nachdem die Fahrgäste ihre Tickets gezeigt haben.
10     Der nichtchinesische Fahrgast, der sich in ein Buch vertieft, das den Titel „Die Liebe und ihr Henker“ trägt.11     Der italienische Schaffner, der die Tickets prüft und dann das Licht ausschaltet.
12     Der Zug, der durch die Nacht fährt, und in 1o Stunden in Wien Hauptbahnhof ankommen wird.
13     Das chinesische Mädchen, das in Österreich geboren nach Ankunft ihre Lehrabschlussprüfung als Apothekenhelferin absolvieren wird, und ausschaut wie die Mädchen in den Mangas, sich den zum Liegen herausgeschobenen Sitz mit seinem um vieles jüngeren Bruder teilt, auf dem die stolzen Blicke seines Vaters ruhen, der als Koch in einem chinesischen Restaurant in Wien arbeitet.
14     Das Atmen und leise Schnarchen der mittlerweile schlafenden Insassen des Abteils im Waggon 405 der OEBB.
15     Die chinesische Frau, die noch kein Wort gesprochen hat, mit dem fast ebenso faltenlosen Gesicht wie das  ihrer Tochter, und an eine schuppenlose Echse mit geschlossenen Augenlidern erinnert.
16     Die chinesische Frau, die eine purpurfarbene Strumpfhose an und ihre Füße neben den Kopf ihres Sohnes gebettet  hat, der nun auf dem Schoß des nichtchinesischen Fahrgastes schlummert.
17     In Udine, wo  ein Jugendlicher mit Gitarre und schwerem Koffer zu steigt, der einen Sitz im Abteil gebucht und reserviert hat.
18     Der chinesische Vater, der  aufgewacht ist und ihn verständnislos  anschaut.  Alle anderen, die tief und fest  schlafen oder so tun als ob…
19     Der Jugendliche, der nicht aufgibt und sogar bereit ist, vor der Tür zu übernachten, um dem Kind nicht den Sitzplatz zu rauben.
20     Der nichtchinesische Fahrgast, der  sich einschaltet, weil er nicht einsieht, warum dieser höfliche Jugendliche nicht seinen Platz bekommen soll.
21     Der schwere Koffer des Jugendlichen aus Udine, der zu groß ist für die Gepäckablage und nun halb auf dem Gang und halb im Abteil steht, ein Umstand, der die abgestandene Luft im Abteil bereinigt.
22     Der Jugendliche aus Udine, der italienisch spricht, aber gebürtiger Kolumbianer aus Bogota ist, kein Deutsch kann, sich aber in Wien als Kellner verdingen will, weil, wie er sagt, es wichtig ist, dass mein sein Nest verlässt.
23     Der chinesische Vater, der seine Füße nicht mehr hochlegen kann und sie bei seiner Tochter einparkt, die sich daraufhin umdreht.
24     Die chinesische Mutter, die aufgewacht ist und das Notebook wieder hochfährt.
25     Der Zug, der in Salzburg für eineinhalb Stunden halten wird, und in den Bahnhof eingefahren ist.
26     Die nichtchinesischen Fahrgäste, die über die zu einem großen Bett ausgefahrenen Sitzplätze steigen und sich am schweren Koffer vorbei ins Freie zwängen, um ihr Defizit an Nikotin wieder zu kompensieren.
27     Der Jugendliche aus Udine/Bogota, der sagt, dass sein Vater eine in ganz Kolumbien bekannte Radiostimme gewesen sei, dann aber sich von seiner Frau scheiden habe lassen, auf die schiefe Bahn geraten und nach Spanien ausgewandert sei, doch jetzt wieder versuche, in seiner Heimat Fuß zu fassen.
28     Der drei Sprachen perfekt beherrschende Jugendliche, der fragt, ob es tatsächlich wahr sei, dass es in Österreich als schlechtes Benehmen gelte, wenn man sich mit den Fingern durch die Haare fahre.
29     Der Zug, der wieder Fahrt aufgenommen hat, nachdem die nichtchinesischen Abteilinsassen wieder ihre Sitzplätze eingenommen haben…
30     Der Jugendliche, der seinen Kopf in der Armbeuge geborgen hat, die auf dem hochgestellten Trolly ruht…
31     Das leise Schnaufen, Atmen und Schnarchen der schlafenden Abteilinsassen…
32     Die Landschaft, deren schwarze Silhouetten dreidimensionalen Körpern weichen und –  von der Morgenröte wach geküsst –  langsam Farbe gewinnt…
33     Das chinesische Mädchen, das ohne Lampenfieber seiner Lehrabschlussprüfung entgegendämmert, der junge Mann, der einen neuen Lebensabschnitt beginnen, der chinesische Mann, der seinen Arbeitsplatz als Koch einnehmen wird, während die Frau und Mutter ihren ereignislosen Alltag bewältigen wird müssen und der nichtchinesische Fahrgast froh sein wird, diese Nacht überstanden zu haben.

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