01 Feb Last dance
I
Die Kontrolleurin der Border Agency hatte eben die Pässe gescreent. Purpose of your visit? Transit, hat er gesagt und ihr noch einmal die Bordkarte gezeigt. Der Beamte hinter dem Abfertigungspult schenkt der Frau an Jonas Seite einen abschätzenden Blick… Dann gilt seine ganze Aufmerksamkeit ihm. Jona liest: Please do not use mobile phone until clear of immigration. Thank you. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihn Kontrollorgane einer Sonderbehandlung unterziehen. Das hatte mit seinem Aussehen zu tun. Die leicht tränenden, schwarzen Augen, der Stoppelbart, der dunkle Teint. Hast was von Omar Sharif, hat nicht nur Jasmin gemeint, die noch zu der Generation gehört, die ihn in Dr. Schiwago gesehen haben. Kein Kompliment auf der Schwelle zu Grenzübertritten. Wie damals in UK, wo er nach dem schedule 7 of the terrorism act 2000 neun Stunden festgehalten worden war. Ein Jahr vor 9/11.
Im Transit zwischen Zeitzonen, in denen versteckte Sensoren Bewegungen außerhalb von erwarteten Mustern auf überwachte Monitore bannen, sitzt Jona jetzt und nippt an einer Tasse Espresso. Lustlos zappt er auf seinem Smartphone durch die Programme von 7seas. Das Gate für den Anschlussflug nach Bangkok ist noch lange nicht offen.
Draußen ist Nacht.
Ein Mond schärft die Schneide einer Axt.
Aus der Drehtür kommt Jasmin und hält auf seinen Tisch zu…
Sie trägt ein smaragdgrünes Kleid, das nur kleine Schritte erlaubt.
Da hast du dich versteckt, sagt sie, nestelt eine Zigarette aus der Packung mit dem Bild einer Raucherlunge.
Eine automatisierte Lautsprecheransage mit weiblicher Stimme beschallt die Terminals: Aviation security! Please reduce security risks by keeping your baggage with you at all times…
Ein Feuerzeug leuchtet auf.
Ich hab mich nicht versteckt. Hab hier auf dich gewartet, sagt Jona. Eine Sirene heult auf. Resigniert steckt Jasmin die Zigarette in die Packung zurück. Sie weiß, dass nur in den alten Filmen geraucht wird.
Sie schaut auf die Uhr.
Nicht so nervös, sagt Jona. Das neue Jahr findet nicht ohne dich statt.
Die kleine Kapelle, bestehend aus Klavier, Saxophon und einem Bass hat zu spielen aufgehört. Hartley hat sie aus dem Dienst entlassen. He played on, hieß es später, und nach und nach stimmten auch die anderen mit ein, während Bug und Heck auseinanderbrachen…
II
Wie ein am Boden liegender Boxer wird das alte Jahr ausgezählt. Das Beil saust auf den Hackstock nieder und kerbt die Jahre ein: 7 6 5
Glaubst du, beginnt Jasmin. 4… Was soll ich glauben, fragt Jona. 3… Glaubst du, dass wir das nächste Jahr überleben werden? 2… Wir überleben auch dieses Jahr, sagt Jona. Er lallt. Selbst das Sprechen fällt ihm schwer. 1… Ich meine als Paar? Wir zwei? 0… Aber ja doch. Warum denn nicht, sagt Jona, aber sie hört nicht, was er sagt und er sagt es nicht so, dass er selbst daran glauben will. Das neue Jahr hatte begonnen. Er versucht aufzustehen, aber taumelt auf seinen Sitz zurück. Sektkorken knallen. Wildfremde Menschen fallen sich in die Arme. Jasmin möchte am liebsten losheulen, nestelt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche.
III
Da seid ihr ja, frohlockt eine Stimme, die einem Mann gehört, der auf dem Flug hierher ihr Sitznachbar war und jetzt mit ihnen gemeinsam auf das neue Jahr anstoßen will. Bitte nicht, denkt Jona. Nicht auch noch das.
Na, das nenn ich eine Überraschung, begrüßt er die beiden überschwänglich. Seinen Stiernacken, den er durch eine aufgelöste Krawatte entblößt hat, schmückt eine Kette mit protzigen Gliedern. Darf ich…, fragt er Jasmin. Er hatte sie aus der Ferne beobachtet und die Lage richtig eingeschätzt. Ihr Mann war viel zu betrunken, um seine Besitzrechte ihm gegenüber geltend zu machen. Dass dicke Luft herrschte zwischen den beiden, hatte er schon während des Fluges festgestellt. Darf ich sie zu einem Tanz bitten? Und sich jovial an Jona wendend, dem er die Hand entgegenstreckt: Jürgen, mein Name. Jürgen Kaller. Sie erlauben doch?
Auf einem der Monitore wird ein unbeaufsichtigtes Gepäckstück herangezoomt. Es ist ein aluminiumfarbiger Flightcase mit Teleskopgriff.
Ob sie als Paar das Jahr überleben werden, hatte sie gefragt. Ja, die Frage ist berechtigt, denkt Jona, während er seiner Frau zusieht, deren Kopf beim Tanz auf der Schulter des Fremden ruht, als würde sie besiegt in den Seilen hängen.
Nein: Es schaut nicht gut aus. Warum hab‘ ich ihr nicht die kleine Freude machen können und mit ihr tanzen? Ich hätte ja nur so tun müssen, als würde es auch mir gefallen, mich im Rhythmus eines Walzers zu wiegen. Ich und mich wiegen? Dass ich nicht lache.
Die panoptischen Möglichkeiten der Überwachung durch CCTV-Kameras, die für die kurze Zeit des Übergangs vom alten zum neuen Jahr außer Kraft gesetzt schienen, lassen keinen toten Winkel zu. Sie können das Verhalten der Menschen automatisch als verdächtig, gefährlich oder gewalttätig einstufen. Auch deswegen sind die sich im Transit aufhaltenden Passagiere darauf bedacht, ja nicht aufzufallen. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Durchsage, die im Brüllen und Böllern der in den dunstigen Himmel der nahen Stadt abgefeuerten Raketen untergeht. Irgendein Namenträger war aufgerufen worden, sich zum Info-schalter zu begeben.
V
Der Jahreswechsel ist vollzogen. Jona sucht ihre Augen, um sich zu vergewissern, dass sie ihm seine Bequemlichkeit verziehen hat, stellt aber fest, dass sie geschlossen sind. Jürgen Kaller könnte immer so weiter tanzen und hofft, dass der Walzer sein Ende nicht findet. Tanz aber wollte niemand das nennen, der ihnen zusah. Zu schwer hängt die Frau um seinen Hals. Wenn ich es richtig anstelle und d‘ran bleibe, dann… So eine Gelegenheit wird sich mir so schnell nicht mehr… Das alles geht ihm durch seinen Kopf.
Jona will nicht mehr länger Zeuge dieser Demütigung bleiben. Er hat sich kaum von der letzten erholt. Der Metalldetektor hatte angeschlagen und er hat sich einer hochnotpeinlichen Durchleuchtung in einer Kabine unterziehen müssen; dann wurde sein Gepäck auseinandergenommen. Wieder einmal war er dem universalen Verdacht ausgesetzt gewesen, aufgrund seines Aussehens ein potentieller Täter zu sein. Racial profiling ist das; racial profiling… that’s what it is! Sein Protest hat alles noch schlimmer gemacht. Eine Stimme in seinem Kopf fragt: Und Jasmin? Wie hat sie reagiert? Er erinnert sich: Gelacht hat sie. Blöd gelacht. Dann aber hat sie eingelenkt. Das kommt davon, wenn man so gut aussieht wie du… Seine Laune aber war im Keller.
Jona hat genug. Er erhebt sich schwerfällig, reißt fast den Tisch um; ein Kellner in schwarzer Livree bückt sich nach den Scherben. Von seiner Stirn perlt Schweiß. Jona torkelt; dann reißt er sich zusammen und sucht – sich einen Weg durch die tanzenden Paare bahnend – die Tür. Jasmin öffnet die Augen und löst sich aus den Armen des Mannes. Sucht Jona.
VI
Sie folgt den Pfeilen, welche die Passagierströme durch die Terminalgänge leiten, vorbei an Zeichenlandschaften, die aus Warnungen, Verboten und Hinweisen auf Gefahrenquellen bestehen und mit ihren kilometerlangen Fluchten alles Reisen vorwegnehmen: Sie ist nicht wirklich betrunken, aber der Alkohol hat ihr Warnsystem vorübergehend ausgesetzt. Endlich hat sie eine Toilette gefunden. Bist alt geworden, denkt sie in den Spiegel schauend. Brauchst immer länger, die Krähenfüße wegzuschminken. Jetzt ist die Mascara verklumpt, verdammt. Jasmin schürzt die Lippen, füllt zuerst die Ränder mit einem Lipliner aus, greift nach einem pinkfarbenen Lippenstift und trägt nun in der Mitte der unteren Lippe einen silbrigen Highlighter auf: Küsst mich weder, noch tanzt er mit mir. Es gab einmal eine Zeit, da… Jetzt nur nicht sentimental werden. Entschlossen packt sie die Schminksachen in ihre Kosmetiktasche.
Sie weiß Tag und Stunde, mehr noch: selbst, wie es gerochen hat in seiner Küche, als sie nach einem One-night-stand zuerst geflohen war, dann aber wegen ihres Handys wieder zurück in seine Wohnung musste. Sie muss nämlich nur ihre Augen schließen, um mit einem Lidschlag in einen traumähnlichen Zustand zu geraten, der sie von erdgebundener Schwerkraft befreit.
Aviation security please reduce security risks by keeping your baggage with you at all times…
Die exo-planetare Architektur des Flughafenterminals scheint sich dadurch auszuzeichnen, dass sie jeden Augenblick einzustürzen droht. Auch jetzt hat sie das Gefühl, einer großen Gefahr ausgesetzt zu sein, einer Gefahr, vor der sie niemand schützen kann, auch wenn und vielleicht gerade deswegen, weil ihr die auffallend vielen security-first Hinweise suggerieren wollen, dass hier – wenigstens im Terminalbereich des Flughafens – alles Menschenmögliche unternommen wird, sie in Sicherheit zu wiegen. Eben ist sie aus ihrem lidschlaglangen Tagtraum erwacht, von dem sie immer wieder überwältigt wird. Ihr ist, als hätte sich jemand in ihrem Kopf eingenistet und ein Fenster zu ihren verbotensten Gedanken geöffnet, die allerdings an der Schwelle zum Bewusstsein im friendly fire von Transmittern wie feuchtgewordene Silvesterknallfrösche verrecken.
Zu diesen verbotenen Gedanken gehört, dass sie eigentlich darauf gewartet hatte, dass ihr der Mann, mit dem sie getanzt hat, bis in die Toilette folgt, um mit ihr … Warum nicht? Immerhin hat er sich um sie bemüht, während Jona sie nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte, als sie seinetwegen ihre Garderobe gewechselt hat. Ein Kleid, das ihre Figur zur Geltung bringt. Und ihre Figur ist noch immer die einer begehrenswerten Frau. Das ist und war leicht aus den Augen der Männer zu lesen. Ich benehme mich heute wie ein trotziges, kleines Kind, das den Luftballon nicht bekommt, um den es gebettelt hat und dafür Rache übt, schimpft sie sich und holt – sicher auch, um ihr schlechtes Gewissen schnellstens zu beruhigen, das Handy aus ihrer Tasche und wählt die Nummer von Jona. Besetzt? Mit wem könnte er telefonieren? Nein: Eine fremde Stimme – sie ist weiblich und computergeneriert – macht sie bestimmt aber freundlich darauf aufmerksam, dass die Nummer nicht erreichbar ist. Not available. The number you have dialed is not available.
Erst pinkeln. Dann schütteln!, liest sie und vermutet, dass sie sich ins Klo der Männer verirrt haben muss. Nichts wie raus hier, denkt sie, während Panik wie Magensäure in ihr aufsteigt.
VII
Jona vermutet, dass seine Frau auf der Toilette ist, sucht das entsprechende Piktogramm und nimmt das Förderband. Steht und bewegt sich doch. Für manche noch immer zu langsam. Infoscreens wollen ihn mit Nachrichten unterhalten: Meerschweinchen, erfährt er, haben an ihren Hinterpfoten nur drei, vorne aber 4 Zehen. Der Gründer von Facebook hat sich für dieses Jahr vorgenommen Bücher zu lesen. Mohammed hat heute Geburtstag. Wir schreiben das Jahr 1437 nach der Hidschra im Monat Muharram. Und: Wieder ein paar Minuten klüger! Wir setzen auf Inhalte.
Was für ein Schwachsinn, denkt Jona. Warum aber soll das neue Jahr nicht wie das alte beginnen? Was ist nur los mit Jasmin? Der Plan mit der gemeinsamen Auszeit vom Alltag scheint nicht aufzugehen.
Warum muss ich gerade jetzt an einen weit zurückliegenden Sommer denken mit stoppelgelben Feldern, auf denen Schafe weiden, und ich meinem Sohn zuschaue, wie er selbstvergessen mit dem spielt, was er im Keller eines alten Bauernhauses gefunden und aus den Spinnweben befreit hat.
Die Chancen, dem Rad in die Speichen zu greifen und es in andere Bahnen zu lenken, die hast du verpasst. Du hast sie gehabt und nicht ergriffen, also, was soll’s. Vieles hätte ich anders machen können und hab es nicht getan. Ich hab’s nicht getan. Auch wenn ich es gewollt hätte, wäre es beim Wunsch geblieben. Ich habe mir immer ausmalen können, wohin, in welche Sackgasse solche Entscheidungen geführt hätten. Denn dass eine jede in einer Sackgasse mündet, das hat mir niemand gesagt. Das habe ich ganz alleine selbst herausfinden müssen.
VIII
Das Gesicht im Spiegel: eine Fratze. Das Echo im weiß gekachelten Klo: Hohn. Will ich das? Will ich das?
Was tust du so lange? Mach auf! Was ist mit dir? So mach doch endlich auf!
Bleib draußen, sagt sie. Bleib draußen. Sie gibt die Tabletten in die Schachtel zurück, lässt sie aus ihrer Handfläche tröpfeln. Jede einzeln. Wie Perlen.
Der Mond scheint durchs Fenster. Dreiviertel voll. Wie mein Leben. Dreiviertel voll. Das, was es noch rund machen könnte, wie den Mond da draußen, ist …ist weit weg. Genauso weit wie der Mond. Was nur könnte das noch sein? Nicht dass sie darüber ernsthaft nachgedacht hätte. Es war nur so ein Moment. Flüchtig wie ein Wimpernschlag. Sie schürzt die Lippen und zieht mit dem Lippenstift noch einmal das fehlende Rot nach, presst sie zusammen und macht sie zu einem harten Strich; dann streckt sie die Zunge heraus: Bäh, du kannst mich mal!
Ich wollte diese Reise nicht. Warum habe ich mich dazu überreden lassen. Sie wird unsere Ehe nicht retten. Sie ist gescheitert. Punkt.
Sie geht hinaus, an ihm vorbei. Er geht ihr nach, redet auf sie ein. Sie tut, als höre sie ihn nicht. Lass mich allein. Ich muss jetzt allein sein; in Ruhe nachdenken, verstehst du? Natürlich versteht er nicht. Er versteht nie. Er hat mich nie verstanden.
Ich komme nach, ruft sie ihm hinterher. Wir treffen uns am Gate.
IX
Jona sucht sein Ticket. Er sucht es in seinen Manteltaschen und findet dort neben einem Glücksschweinchen zwei Visitenkarten: Eine von einem Friseur, Studio „Haar Genau“, und eines aus einem Buchladen für „radical books and vegan food & drinks“. Da er seiner schütteren Haare wegen schon lange keinen Friseur mehr aufgesucht hat und auch in keinem Buchladen war, der radical books vertreibt, muss er sich die Frage gefallen lassen, ob es sein Mantel ist, den er in der Bar vom Haken genommen hat. Die Suche nach dem Pass fördert noch mehr Glücksbringer zutage, die ihn daran erinnern wollen, dass ein neues Jahr begonnen hat. Nur welches? Pass und Ticket jedenfalls lassen sich auch in den Taschen des Mantels nicht finden. Dafür aber eine Brille mit Hornrand, Schlüssel und ein Lexikon im Format von Reclam-Ausgaben „Arabisch für Anfänger“. Er sucht weiter. In der Innenseite des Mantels findet er den Pass. Aber es ist nicht seiner. Aus dem Foto starrt ihm der Mann entgegen, mit dem Jasmin getanzt und sie schon im Flieger angemacht hat. Auch das Ticket, das zwischen den von vielen Reisen gestempelten Seiten liegt, ist nicht seines. Es ist kein Ticket nach Bangkok, sondern eines in den Oman. Er sucht eine Sitzgelegenheit; Jetzt ist guter Rat teuer. Das darf nicht wahr sein. Das darf doch alles nicht wahr sein, murmelt er lautlos.
Ich trage seinen Mantel. Warum ist mir das nicht früher aufgefallen. Die Ärmel sind viel zu kurz. Jasmin hat recht: Immer hast du deinen Kopf in den Wolken. Vielleicht ist er noch in der Bar? Hoffentlich hat Jasmin meinen Pass und die Tickets eingesteckt? Ganz sicher. Sie weiß ja, wie vergesslich ich sein kann. Oder sind sie etwa im Mantel dieses anderen, mit dem sie getanzt hat? Der sie schon im Flieger angemacht hat? Und ich … Ich bin schuld, dass es so weit gekommen ist. Warum hab‘ ich Gleichgültigkeit vorgetäuscht? Trägt er meinen jetzt? Wenn ich mich nur erinnern könnt‘, ob die Dokumente in meiner Manteltasche waren oder Jasmin sie für mich aufbewahrt hat. Was tu ich jetzt ohne Pass und Ticket? Wo ist sie? Warum erreiche ich sie nicht? Warum liest sie die Nachrichten nicht? Es war doch ausgemacht, dass …
X
Jasmin starrt auf die Monitore und vergleicht mit ihrer Boardingkarte die vertikal scrollenden Buchstaben, welche die An- und Abflugzeiten sowie Gates der jeweiligen Terminals bekanntgeben. Sie fragt sich, ob sie den Shuttlebus nehmen oder lieber warten soll, bis Jona auftaucht. Da es aber eher unwahrscheinlich ist, ihn hier auf dem Weg zum Gate A 365 anzutreffen, kehrt sie kurz entschlossen um und geht zurück in die Bar, wo sie gemeinsam das alte Jahr verabschieden hatten wollen. Irgendwas war vorgefallen. Ihr war, als hätten sie Abschied voneinander genommen, aber sie wusste nicht mehr, warum, und vor allem, warum hier im Transit, wo sie doch nur auf den Anschlussflug warten wollten. Wie oft habe ich mich schon trennen wollen? Und hab nur damit gedroht. Immer nur damit gedroht. Nur keine Panik, ermahnt sie sich, als sie Jona in der Bar nicht antrifft. Wie war ich doch jung und dumm und hab mich blenden lassen von seinem weltmännischen Auftreten; stolz war ich. Stolz auf seine Sprach-kenntnisse, auf seinen guten Geschmack in Kleiderfragen. Ich hab’s in den Augen der Frauen gesehen, wie sie ihn anschauen und mich beneiden. Ihm gehören wollt‘ ich. Und jetzt?
XI
Auf der Suche nach dem Gate hat sich Jona in einem Seitenstrang der vielen kilometerlangen Gänge verirrt, in dem er wie in einer Schlaflähmung während eines Albtraums feststeckt, obwohl er hellwach und nüchtern zu sein glaubt.
Ich muss Jasmin ausrufen lassen, schießt es ihm durch den Kopf.
Eben wird ein Mann aus dem Verkehr gezogen. Es geschieht beinahe lautlos. Das Security Personal trägt einen schwarzen Ganzkörperanzug, Stiefel und eine Maske. Es ist befugt, Verdächtige in Präventivhaft zu nehmen.
XII
Wen soll ich ausrufen, fragt die Frau am Schalter noch einmal, ohne das Dienstleistungslächeln auch nur einen Augenblick aufzukündigen. Sie hat ein Bindi zwischen den Augen. Ein rotes Bindi mitten auf der Stirn. Das haben nur verheiratete Frauen. Hat eine tolle Figur, stellt Jona fest.
Sagen sie bitte durch, dass ich in der Bar auf sie warte. Nein, sagen sie, dass ich im Andachtsraum bin.
Ein Hinweisschild mit im Gebet gefalteten Händen gleich neben dem Schalter in Augenhöhe zeigt die Richtung. Dort ist es ruhig. Dort können wir reden. Mein bockiges Schweigen hat alles nur schlimmer gemacht. In Wirklichkeit hab‘ ich ihr ja schon lange verziehen. Warum glaubt sie nur immer, mich eifersüchtig machen zu müssen? Wann hab‘ ich aufgehört, ihr den Hof zu machen. Den Hof machen. Sagt man das heute noch? Was hätte ich tun müssen, dass es so weit nicht kommt, wie es gekommen ist mit uns?
Ich muss die Bar wiederfinden. Dort hängt mein Mantel. Dort finde ich Jasmin.
XIII
Er versteht nicht, wie es seiner Frau noch immer gelingt, an ihm Gefallen zu finden; wie sie sich in ihn, in einen alten, von Selbstzweifeln zerfressenen Mann mühelos hineindenken kann, und das Altwerden mit ihm und all seinen Konsequenzen vorwegnehmen zu können scheint. Nicht immer. Aber öfter als es ihm gelingt, sie als Frau zu behandeln, die begehrt sein will.
Erst gestern hat er ein Buch aufgeschlagen und dabei festgestellt, wie die Hände, die es hielten, wie die Haut dieser Hände, die Sehnen wie Fischgräten, nein wie Vogelfußskelette anzusehen waren, so dass ihm das Lesen in dem aufge-schlagenen Buch vergangen ist.
Natürlich hing sein Mantel nicht mehr auf dem Hacken und der Mann, der jetzt im Besitz seines Mantels war, befand sich nicht mehr im Lokal. Sinnlos einen Kellner zu fragen.
Was soll ich jetzt tun? Ist unwahrscheinlich, dass sie Pass und Tickets hat. Sie wird mich doch nicht verlassen haben? Nein: Das ist nicht ihr Stil. So etwas tut sie nicht. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht während einer Reise. Oder etwa doch? Wo bleibt der Aufruf, den er veranlasst hatte?
XIV
Der Copilot der Airbus 270 Ganahare M. der thailändischen Airline ist gerade dabei seinen Dienst anzutreten. Er plaudert angeregt mit den Stewardessen, die in ihrem Outfit und ihrem kindlichen Charme das Land des Lächelns, wie es in Reiseführern umworben wird, würdig vertreten. Niemand, wenn er dazu noch Gelegenheit gehabt hätte, würde gesagt haben, dass er sich an diesem Tag besonders auffällig benommen habe.
XV
Jona will sich gerade auf den Weg in den Andachtsraum für alle Glaubens-bekenntnisse machen, als er den Mann sieht, der fortgerissen von einem Laufband – seinen Mantel lässig über die Schulter geworfen – zu einem anderen Gate unterwegs zu sein scheint. Er will ihm nachrufen, weiß aber nicht, was er rufen soll. Hallo… Wie bescheuert. Schon ist er außer Sicht. Er versucht ihm nachzulaufen, hält sich am Handlauf fest und will über das Geländer setzen, als ein schriller Pfiff ertönt. Jona fällt hin. Ein jäher Schmerz schickt in einer Nanosekunde seinen Impuls vom Fuß zur Hirnrinde. Er versucht aufzustehen. Ein Mann in Uniform beugt sich zu ihm hinunter und sagt etwas in einer fremden Sprache. Es sind scharfe Verschlusslaute. Scharf wie die Bügelkante seiner Uniformhose. Er wartet, dass er aufsteht, aber er steht nicht auf. Er möchte hier liegen und nicht mehr aufstehen.
Jasmin. Wo ist Jasmin? Was für eine Schnapsidee diese Reise. Ein Ortswechsel würde uns guttun, die Routine aufbrechen und vor allem das unheilvolle Schweigen zwischen uns. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Das hätten wir auch zu Hause tun können.
XVI
Jasmin nippt an einem Latte Macchiato. Sie hat, um sich abzulenken, ein Magazin aufgeschlagen und versucht sinnerfassend zu lesen, was ihr aber ganz und gar nicht gelingen will. Die Überschriften überfliegend, denkt sie an Jona: „Scheidung eingereicht. Kommt jetzt die Schlammschlacht. So posen Hostessen. Noch schneller Nachrichten tippen“. Wo steckt er nur? In eben diesem Augenblick tippt jemand auf ihre Schulter. Sie dreht sich um … und wieder ist es der Fremde, der sie jetzt angrinst. Da hört sie die Durchsage: Frau Norman. Frau Jasmin Norman…
War das nicht eben der Mann, mit dem sie getanzt hat? Mit dem sie sich eine kleine Abwechslung gewünscht hat? Im Flugzeug hatte sie seine langatmigen Ausführungen anfänglich noch unterhaltsam gefunden und war amüsiert über die Schnappatmung des Fremden, der sie bis zur Landung in Beschlag genommen hatte. Da Jona an keiner Unterhaltung interessiert war und sein trotziges Schweigen aufrechterhalten hatte, war sie zuerst regelrecht froh über die Abwechslung gewesen, und hat mit dem Gedanken gespielt, Jona ein bisschen eifersüchtig zu machen, indem sie so tat, als würde es sie brennend interessieren, über die Nöte und Ängste und den anscheinend beschwerlichen Berufsalltag eines Erholungsforschers aufgeklärt zu werden.
Das aber hatte sie schnell bereut, als er ihre Bereitschaft, ihm zuzuhören, als Aufforderung missverstand, ihr auch physisch näher zu kommen; das alles mit unübersehbaren und eindeutigen Signalen. Er hatte unverblümt in ihren Ausschnitt gestarrt, sie zuerst flüchtig berührt, dann ist er immer aufdringlicher geworden, hat seine fleischigen Pratzen auf meinem Oberschenkel ruhen lassen, die trotz meines Protestes – ganz so, als könnte er sie nicht mehr unter Kontrolle halten -, den Weg dorthin immer wieder zurückgefunden haben. Sie hätte schreien können. Und Jona? Jona hatte so getan, als ginge ihn das alles nichts an. Hatte in den Werbebroschüren der Luftlinie geblättert und dann seine Schlafmaske über die Augen gestülpt, die Lehne nach hinten gekippt, sich mit dem aufblasbaren Nackenkissen gegen die Außenbordwand gelehnt, und mit seiner ganzen Körperhaltung angezeigt, dass er bis zur Aufforderung der Stewardessen, sich auf die Landung vorzubereiten, nicht mehr gestört zu werden wünschte.
Ich hätte gerne, dass sie mich in Ruhe lassen. Wir haben miteinander getanzt. Das war’s. Lassen sie mich in Ruhe. Sie nimmt seine Hand von ihrer Schulter und sagt es langsam und bestimmt.
Das kann ich nicht, sagt der Fremde ungerührt. Er hatte ihr zwar schon im Flieger angeboten, ihn Jürgen zu nennen, das aber wollte sie nicht annehmen; auch um keine Zweideutigkeiten aufkommen zu lassen. Er genießt ihre Verstörung und lässt einen langen Augenblick verstreichen, um mit einem breiten Grinsen noch einmal zu wiederholen: Das kann ich nicht.
Aber ich kann, sagt Jasmin, greift nach dem abgestellten Koffer und bemüht sich um einen ruhigen Gang. Hält er sich denn wirklich für so unwiderstehlich? Ich muss zum Schalter. Der Fremde hat sie eingeholt, versucht mit ihr Schritt zu halten.
Übrigens: Ich habe einen Mantel, der nicht mir gehört. Ist ihr Liebhaber im Mai 1960 geboren? Schon wieder diese Bestürztheit in ihrem Gesicht. Wieder genießt er es: Das weiß ich aus seinem Pass. Er hat meinen. Wir sind also sozusagen schicksalhaft aneinander geschmiedet. Schon im Flugzeug hab‘ ich gewusst, dass das eine Begegnung mit Zukunft sein wird. Wo ist er, dein Freund oder bist du etwa mit ihm verheiratet?
XVII
Niemandsländlich trifft es am besten; so heißen die Orte, die keine sind, weil ihnen die vierte Dimension fehlt; es gibt keine Zeit, die vergehen könnte in einem Traum und trotzdem ist es ein Nacheinander von Ereignissen, da selbst ein Traum ihr Fortschreiten nicht aufhalten kann.
Ihr nämlich ist, als würde sie träumen; nein: nicht träumen; als hätte sie das schon einmal durchlebt, aber keine Erinnerung daran, wie alles ausgegangen ist. Sie kann ihn nicht abschütteln. So schnell kann sie gar nicht gehen. Er bleibt keuchend an ihrer Seite. Jasmin beginnt ihn zu hassen. Sie sucht den Infoschalter. Dort wird ihr ausgerichtet, dass Jona im Andachtsraum auf sie warte.
Was hat er dort verloren? Kann mich nicht erinnern, dass wir jemals in eine Kirche gegangen wären in den letzten 10 Jahren.
XVIII
Der Fuß tut ihm weh. Er kann kaum gehen, aber wenn er Jasmin wiedersehen will, muss er die Kapelle aufsuchen; gedacht für Reisende, die mit ihrem Gott Kontakt aufnehmen wollen. Der Raum aber, in den er nun gebracht wird, weil er sich nicht ausweisen konnte und im Besitz eines Passes ist, dessen Foto einen anderen Mann mittleren Alters zeigt, ist keine Kapelle. Es ist eine Zelle. Tisch. Bett. Stuhl. Eine Stahltür mit einem Schlitz. Alle Beteuerungen hatten nichts geholfen. Im Gegenteil alles noch schlimmer gemacht.
Nach Bangkok? Warum aber dann ein Ticket nach Oman? Warum ein falscher Pass?
Den Raum, in dem er einvernommen wird, schmücken Poster von Veranstaltungen, die vor Jahren stattgefunden haben. Eines gleich neben der Tür zeigt das Schwarzweißfoto einer nackten Frau mit der Aufschrift „The other view“. Zwei Beamte in grünen Uniformen teilen sich einen Tisch und ein Telefon. Ein Mann und eine Frau. Sie sitzen so, dass sie einander im Blick hätten, wären da nicht große Flatscreens, die das verhindern. Der Mann hat einen rosafarbenen Turban auf; er ist also ein Sik. Er hat ein Zahnpastalächeln und eine kleine Narbe unter dem linken Auge. Die junge Frau hat einen so großen Busen, dass sie ihn auf dem Tisch abstützt. Beide sind blass. An der Decke hängt eine nackte 100 Wattbirne.
Sie wählt eine Nummer und sagt: Where are the papers? Where are the forms? Where are the teachings? It does not work like this. Have you run out of paper? They should be on the table. But they’re not. Could you tell someone upstairs… Yes, be so kind. Thank you. Yes. I will.
Dann wendet sie sich an Jona und sagt: Sie wissen, dass sie zur Wahrheit verpflichtet sind bei ihrer Aussage jetzt. Gut. Am besten wir fangen mit ihrem Namen an. Aber erzählen sie uns keine Märchen, ja? Don’t tell me fairy tails…
Natürlich haben sie ihm kein Wort geglaubt. Die Geschichte klang auch zu abenteuerlich.
XIX
Jasmin lässt sich mit einem tiefen Seufzer auf einer der Bänke nieder, die auf etwas ausgerichtet sind, was kaum als Altar gedeutet werden kann. Die Richtung zeigt aber vielleicht nach Mekka. Jona ist nicht da. Der Fremde hat neben ihr Platz genommen. Hat sie sich verhört? Nicht richtig verstanden? Vielleicht liegt ein Missverständnis vor. Prayer room hat sie verstanden und nachgehakt: You mean church?
Yes, it is a kind of chapel, an oratory.
Kaum hat das Jahr begonnen, sind wir uns schon verloren gegangen, denkt sie – fast amüsiert. Wäre es nicht eine Abfolge aus Suchen und Finden und sich Wiederverlieren, könnte ich das, was uns verbindet, kaum Beziehung nennen. In eine Kapelle hat sich der Herr geflüchtet. Was hat er dort verloren? Warum sollten wir uns dort ein Stelldichein geben? Das war zwar eine rein rhetorische, aber doch interessante Frage. Sie würden den Flug versäumen, ging ihr durch den Kopf.
Was ist nur in ihn gefahren? Andachtsraum. Das neue Jahr hat ja gut begonnen… Zuerst schaut er unbeteiligt zu, wie ein fremder Mann seine Pratzen auf meine Hinterbacken legt und mich wie eine Puppe durch den Raum schiebt, dann haut er einfach ab und schickt mich in eine Kapelle? Wozu? Hatte er eine Erleuchtung? Ist ihm ein Engel erschienen? Einer, der ihm sagt, was er für ein Idiot ist?
Der Fremde hat ihr die Hand um die Schultern gelegt. Sie versucht sich aus der Umklammerung zu befreien, aber sie hat die Kraft nicht: In der Bar warst du nicht so zickig. Schau, es hat keinen Sinn. Wir sind hier allein. Du willst doch den Mantel und die Dokumente wieder, damit du deine Reise mit deinem Freund fortsetzen kannst, lispelt er ihr ins Ohr, dass sich ihr alle Nackenhaare aufstellen. Wenn du nicht gleich aufhörst, sagt sie so scharf sie kann, schrei ich. Hast du mich verstanden?
Na dann schrei mal, sagt er jetzt und genießt die Angst, die er in ihren Augen entdeckt. Hier hört dich niemand. Außerdem. Du willst es doch. Gib’s doch zu. Du hast mich dazu aufgefordert. Ich hab’s gespürt, wie wir getanzt haben. Schon vergessen?
Überrascht von der Gefahr, von der in Wirklichkeit heimgesucht zu werden, sie nur in Zeitungen gelesen hatte, verfällt Jasmin in einen Zustand katatonischer Starre und richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Fenster – sich wundernd, dass es tatsächlich die aus grünem Waldglas hergestellten, bleigefassten Tellerscheiben sind, wie sie im Mittelalter in den Kirchen Verwendung gefunden hatten. Ein sich in den Butzenscheiben vielfach brechendes Mondlicht zaubert eben einen Lichtkegel auf die ornamentalen Fliesen.
Ich gebe dir den Mantel unter einer Bedingung, sagt der Fremde jetzt, und diese Bedingung kennst du, oder? Sie will nach dem Mantel greifen, aber er wirft ihn über die andere Schulter. Jasmin erwacht wie aus einem schlechten Traum, Wut kocht in ihr hoch: Sind wir hier auf dem Schulhof, oder was? Mein Mann wird jeden Augenblick hier sein. Ich warne Sie.
XX
Jona hat im detention chair, in einem Zwangsstuhl Platz genommen. Das ist ein Stuhl, der dich in der Bewegungsfreiheit einschränkt und einen Gefangenen ruhigstellen soll. Auch wenn es nur eine Sprechblase gewesen war, die eben mit lauter tief im Rachen gebildeten Rchrrrrrrr’s implodierte, er hatte verstanden. Es war unmissverständlich. Die Uniform mit dem breiten Gürtel, dem Pistolenhalfter und den Schweißflecken unter den Achselhöhlen hätte auch gar keinen Laut von sich geben müssen. Die Berufsbekleidung allein hatte genügt, bei ihm Schuldgefühle auszulösen, und wer sich schuldig fühlt, benimmt sich auch so, als sei er auf frischer Tat ertappt worden.
What have I done? Was habe ich getan, fragt Jona …, wie kann ich sie davon überzeugen, dass ich ein harmloser Tourist bin, der nichts anderes will, als wieder… We have a connecting flight to Bangkok… My wife is waiting for me.
Mitten in seinem Gestammel, – I am a tourist coming from Austria – , das Gefahr lief, sich in einem sinnlosen Staccato von Worten und deren mantraartigen Wiederholung in einer Endlosschleife zu verlieren – I am a tourist coming from Austria, my wife, please call her out … -, wurde er mit einem „shut up“ kalt gestellt, das sich wie das metallische Klicken beim Entsichern einer Glock 21 anhört. Während Jona in diesem Stuhl sitzt, werden ihm jetzt Fragen gestellt: Ob er schon einmal an Selbstmord gedacht habe; an einer ansteckenden Krankheit leide, mit Drogen in Berührung gekommen oder etwa süchtig, schon einmal psychiatrisch behandelt worden sei; ein Staccato an Fragen, die er alle mit no beantwortet hat. Der Stuhl ist mit dem Rücken zur detention chamber angebracht, einer Stahltür mit einem bruchsicheren kleinen Fenster auf Augenhöhe. In dieses Zimmer möchte Jona nicht.
Auf der Wand hängt ein Fahndungsfoto. Das kann nicht sein. Es ist der Mann, mit dem Jasmin getanzt hat. Ja, das ist er.
XXII
Der first officer hat im Cockpit Platz genommen und geht mit dem Piloten die Checkliste der Vorflugkontrolle durch. Sie kennen sie auswendig, müssen sie aber Punkt für Punkt abarbeiten und hoffen, dass sie dabei nicht von einem Funkspruch gestört werden, da sie sonst wieder von vorne beginnen müssen. Sie sind Arbeitskollegen, keine Freunde. Ghanahare weiß, dass der steuernde Pilot seine Affäre mit der Stewardess nicht gutheißt.
XXIII
Irgendwer oder irgendetwas muss ihr eine Sonde in die hauchdünne Membran zwischen den beiden Hirnhälften eingeführt haben, um bis zum Hippocampus, zum Datenspeicher ihrer Träume vorzudringen; nicht mit dem Auftrag, sie zu löschen, aber ihre chronologische Ordnung zu zerstören, um sie jeder rationalen Kontrolle zu entziehen.
Jedenfalls fühlt es sich so an, denkt Jasmin, als würde mir jemand mit einem silbernen Löffel das Hirn aufschlagen, um mir meine Träume zu klauen und sie auf die Butzenscheiben einer Kapelle zu projizieren.
Wie sonst kann es sein, denkt Jasmin – und wundert sich über ihre Fähigkeit, noch Fragen zu stellen -, dass ich wieder den Vogel sehe, der kopfvoraus auf die Glaswand einer Bushaltestelle im Nirwana klatscht, obwohl der aufgeklebte Scherenschnitt schwarzer Vögel mit ausgebreiteten Flügeln ihn eigentlich hätte warnen müssen.
Wo bleibt er nur, wenn ich ihn einmal dringend brauche, denkt sie und weiß, dass sie jetzt schreien muss. Ganz laut schreien. Aber sie bleibt stumm. Niemand kann sie hören. Auch das weiß sie.
XXIV
Jona wartet in seiner Zelle und hofft, dass sich das Missverständnis bald aufklärt. Er verweigert das Essen, das ihm durch einen Schlitz gereicht wird. Auf die Frage, wie es nun weiter geht, hat er zur Antwort bekommen: You will go to jail. That’s what’s gonna happen with you.
Er sitzt auf dem Gestell eines Eisenbettes, dem die Matratze fehlt und wird von plötzlicher Müdigkeit übermannt. Kaum hat er die Augen geschlossen, dröselt er den Faden auf, um den Anfang des Netzes zu suchen, in dem er gefangen ist.
XXIV
Sie weiß, was jetzt kommt. Jemand wird den toten Vogel aufheben, seine Flügel spreizen und ihn wie einen Papierflieger in die Luft werfen. Der Vogel ist nicht tot. Ganz und gar nicht. Er ist quietschlebendig und schraubt sich mit schrillem Schrieh Srieh in die Höhe; ist aber kein Vogel mehr.
Zwei Männer in Uniform betreten den Andachtsraum. Ein Routinegang.
Was die Uniformierten sehen, ist ein Mann, der eine Frau an die Wand gepresst hat; mit einer Hand hat er ihren Schrei zu ersticken versucht, mit der anderen ihr zwischen die Beine gefasst. Er dreht sich um, sieht die beiden Beamten und zischt Jasmin ins Ohr: Mach keinen Scheiß! Wir gehören zusammen! Jasmin aber erkennt ihre Chance und es gelingt ihr, sich zu befreien. Sie rennt auf die Beamten zu und redet auf sie ein. Sie wollen seine Papiere sehen. Der Fremde tut zuerst, als wolle er der Aufforderung Folge leisten, dann beginnt er zu rennen. Einer der Uniformierten hat eine Trillerpfeife. So viel steht fest: Er wird nicht weit kommen.
XXVI
Was mit ihm geschieht, interessiert Jasmin nicht mehr. Sie sieht ihren Mann auf sie zukommen. Da bist du ja, ruft Jasmin. Sie ist froh, Jona zu sehen, eilt ihm entgegen und umarmt ihn, wie sie es schon lange nicht mehr getan hat.
Jona ist sichtlich gerührt, ja fast verlegen. Er streicht ihr durchs Haar. Weißt du…, setzt er an, aber Jasmin unterbricht ihn: Wir müssen zum Gate. Sag’s mir später.
Über Lautsprecher hören sie: Last call for Bangkok. Airbus 270, Gate number 74a. Hoffentlich schaffen wir das noch, sagt Jona und nimmt sie bei der Hand. Er spürt es am festen Griff, dass etwas geschehen ist mit ihr, mit ihnen beiden.
XXVII
Der Traum hat das Gewebe von Zeit und Raum zerrissen und ihr ein Fenster aufgemacht, von dem aus sie einen kurzen Blick in die Zukunft hatte werfen dürfen. Ob wir noch einmal so beginnen können, als wäre nichts gewesen? Manchmal wäre es schön, kein Gedächtnis zu haben, denkt Jasmin.
Nein: Es war kein Traum. Dieser Bildfolge war eine andere vorausgegangen. Aber das Vorher oder Nachher spielt jetzt keine Rolle mehr.
Oder doch?
Jasmin weiß nämlich, was gleich geschehen wird. Der Vogel ist kein Vogel mehr, sondern ein Flugzeug; es setzt zum Sinkflug an… Auch Jona scheint es, – wenn sie seinen Blick richtig deutet -, mehr zu ahnen als zu wissen. Denn eben in diesem Augenblick hat Ganahare M seinen Copiloten ausgesperrt und hält…
Und hält auf einen Berg zu…
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