Das Seelenbuch

Fass das Buch nicht an! Du kannst hier nicht einfach ein Datum löschen. Was fällt dir ein?
Das Buch hat einen schwarzen Rücken. Leder, stellt er sachkundig fest. Es riecht nach Moder. Nach Lagerung in einem Keller. Die Ecken sind mit fein ziseliertem Silber beschlagen. Arbeit eines Meisters aus einer anderen Zeit.
Wieder will er den Deckel anheben und es aufschlagen, neugierig auf seinen Inhalt. Wieder die Stimme und ein Schlag auf den Handrücken, wie es geschieht, wenn ein Kind vom Teig nascht, der für einen Kuchen bestimmt ist. Tadelnd, aber nicht streng. Nicht streng genug, um ihn davon abzuhalten, es nicht doch noch zu versuchen. Er sieht sich verstohlen um und weiß sich in einer Kirche. Die Sonne schüttet einen Eimer Licht in das Halbdunkel eines Laubenganges mit hochragenden Strebepfeilern. Das Licht ist durch die Butzenscheiben gebrochen und siebt die Farben des Regenbogens auf den Rücken des Ledereinbands. Das Silber funkelt. Er kann sich nicht länger beherrschen. Sicher ein Register, eine Matrik oder ein Seelenbuch, wie sie in den Pfarreien landauf landab seit den Türkenkriegen geführt werden. Hier müssen auch seine Geburts- und Sterbedaten zu finden sein. Ihm wird heiß. Sterbedaten? Tatsächlich. Die Rubrik, in welcher Pfarrer seit Jahrhunderten geflissentlich Geburt und Tod eintragen, als würde sich jedes Leben – auch wenn es zwischen Wiege und Sarg noch so ereignisreich war – auf diese zwei, auch auf Grabinschriften gemeißelten Daten reduzieren lassen -, ist nicht etwa leer. Nein: Da ist ein Datum eingetragen. Wie kann das sein? Das ist unmöglich. Wäre es so, versucht er sich zu beruhigen, dann könnte ich mich nicht hier aufhalten und in diesem Buch blättern, den aus den Seiten aufsteigenden Geruch nach Moder wahrnehmen, beeindruckt sein von der nach links geneigten Schrift, die von ausgeprägter Selbstbeherrschung Zeugnis ablegt. Dazu kommt der taktile Reiz, der von der Grammatur des Papier‘s ausgeht. Alles Wahrnehmungen, die niemand haben kann, der schon tot ist. Hier muss ein Irrtum vorliegen. Ich muss das Datum löschen, schießt es ihm durch den Kopf. Wie aber soll ich das anstellen? Ich kann nichts löschen. Überschreiben? Wie viele Jahre in die Zukunft? 50? 100? Er überlegt nicht lange, reißt die Seite aus der Matrik und will sich gerade davonstehlen, als er Schritte hört. Ein Mönch mit brauner Kutte und einer Kapuze, die einen Schatten auf sein Gesicht wirft, geht mit vor der Brust verschränkten Armen durch den Laubengang und … an ihm vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Als könnte er durch ihn hindurchgehen. Der Mönch versucht nicht, ihm auszuweichen. Er geht geradewegs auf ihn zu und durch ihn hindurch. Es ist kalt. Ihm ist kalt. Eiskalt. Er lässt das Papier fallen. Ein dumpfer Knall erlöst ihn von seinem Traum.
Als er aufwacht und sich in die Wirklichkeit zurückkämpft, hat er keine Seite aus einem Seelenbuch in der Hand. Natürlich nicht.  Aber sein Smartphone. Eben ist es auf den Boden gefallen.

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