Heute ist der Kustos da, aber auch er kann das Verlängerungskabel nicht auftreiben. Er vermutet es beim Religionslehrer, der in der 1a einen von der Erzdiözese approbierten Film über Abtreibung mit dem Titel „Dirty Dancing“ zeigen will. Während die Kolleginnen und Kollegen eine engagierte Diskussion über den richtigen Bratpfannenschutz führen, kämpft er noch immer mit der Bereitstellung der Unterrichtsmittel. Der Overheadprojektor ist nicht einsatzbereit, da vor drei Jahren die Birne durchgebrannt ist, und die Beamten der MA52, die seit Jahren die Anschaffung der Birne blockieren, erst noch den Antrag für deren Entsorgung genehmigen müssen.
Er umschleicht das Fotokopiergerät. Wäre die Liste nicht, in die sich die Lehrkräfte mit der Anzahl der von ihnen gefertigten Kopien mit Datum eintragen müssen, könnte er jetzt bedenkenlos … doch das Halbjahr ist schon um und sein Kontingent an 150 Freikopien schon lange erschöpft. Wenn er weiter so urassen tut, dann macht die Frau Direktor ihre Drohung noch wahr, und er muss für die Druckerschwärze und vielleicht sogar noch für die anfallende Reparatur aufkommen. Die Lösung seines Problems besteht darin, dass eine Kollegin, die in Karenz war und somit keine Kontingente verbrauchen konnte, für seine Kopien mit ihrer Unterschrift geradesteht. Er ist von diesem Akt selbstloser Solidarität am Arbeitsplatz, wo eigentlich alle je nach Dienstalter miteinander konkurrenzieren, dermaßen beeindruckt, dass er sie gerne zu einem Kaffee außerhalb der Schule eingeladen hätte, wäre nicht in diesem Augenblick die Pause ausgeläutet und die nächste Einheit eingeläutet worden.
Keine schrille Glocke, sondern ein silberhelles Glöcklein, wie es zur Bescherung verwendet wird, erinnert ihn, dass er wieder in eine der Klassen gehen darf. Im Vorbeigehen wirft er einen Blick auf den Stundenplan und weiß jetzt, dass ihn die Buben und Mädchen der 2b sehnsüchtig erwarten. Tatsächlich steht Fatima schon in der Tür und begrüßt den Lehrer mit ausgesuchter Höflichkeit, während sich ihre Mitschüler und Mitschülerinnen aus ihren Bänken erheben. Er gibt ihnen Gelegenheit sich zu sammeln, indem sie ihren Atemrhythmus mit seinem synchronisieren. Jetzt, nachdem man keine sprichwörtliche Stecknadel mehr fallen hört, begrüßt er die Klasse mit einem launigen Brummen. Sie erwidern den Gruß im Chor und warten, bis sie das Zeichen erhalten, sich wieder setzen zu dürfen. Nachdem sie geräuschlos Platz genommen haben, herrscht erwartungsvolle Stille. Der Lehrer öffnet das Klassenbuch, Fatima beeilt sich, ihm ihren Kugelschreiber auszuhändigen, damit er eintragen kann: Austrofaschismus oder die Zerstörung der Demokratie.
Während er mit einem lauten Klick die Druckhülse des Kugelschreibers betätigt, um die Rastung aufzuheben und sie kraft einer Feder wieder in den Schaft zu ziehen, hört er die zu Unterrichtenden sich lautlos fragen, was der Lehrer ihnen heute an zu vermittelnden Lehrinhalten anbieten wird. Welche Unterrichtsform wird er vorschlagen? Wird es wieder Frontalunterricht sein oder gar Projektunterricht, der alle in einer Schule gültigen Regeln außer Kraft setzt? Würden sie heute wieder eine ganze Stunde von der Tafel abschreiben dürfen, indem sie die dort von ihm hinterlassenen Schriftzeichen entschlüsseln, wie das mit der Keilschrift geschehen ist, oder dürfen sie heute wieder das Schulbuch aufschlagen und lesen, indem Fatima auf der Fensterseite beginnt und Muhammed auf der Türseite nicht aufhört, sondern den Lehrer fragt, ob er weiterlesen darf, indem er das Pausenläuten ignoriert?
Manche sind so motiviert, dass sie erst gar nicht zum Unterricht erscheinen, sondern einen faustischen Pakt geschlossen haben, indem sie zuhause, auf der Straße oder in schulnahen Parks herauszufinden hoffen, was die Welt, die sie einmal mitgestalten helfen sollen, im Innersten zusammenhält. Sie sind es, die den Bildungsauftrag der Schule wirklich ernst nehmen. Wenn sie oft nach Wochen von ihren strapaziösen Unternehmungen in den Unterricht zurückkehren, werden sie von ihren Artgenossen aber auch von den Unterrichtenden beinahe wie Helden gefeiert. Sie sind es, die den größten Informationsvorsprung haben. Ihre Beiträge sind unverzichtbar, machen den beschwerlichen Einsatz audiovisueller Medien überflüssig, und beleben den Unterricht dergestalt, dass immer öfter die Rolle der Lehrenden als Informationsträger infrage gestellt ist. Das wiederum bleibt – wer Bildungsanstalten als kybernetische Regelkreise begreift – nicht ohne Rückwirkung auf die Lehrenden. Um nämlich ihren Führungsanspruch aufrechtzuerhalten, müssen sie selbst einen als Krankenstand getarnten Bildungsurlaub in Anspruch nehmen, sich – Leib und Leben aufs Spiel setzend – in die Siedlungsgebiete ihrer Klientel begeben, um dort sogenannte Milieustudien zu betreiben. Um der Kritik vorzubeugen, dass in roten Schulen – ja, sie sind im Proporz aufgeteilt – antiautoritärer Unterricht für eine privilegierte Minderheit stattfinde, und die Kinder und Jugendlichen in einer Scheinwelt lebten, die nicht den gesellschaftlichen Gegebenheiten entspricht, gehen manche pädagogischen Fachkräfte so weit, dass sie sich den restringierten Code, d.h. den rudimentären Wortschatz des von der herrschenden Klasse als Gesindel oder Pöbel bezeichneten Menschenschlags aneignen, um – wenn sie vom Bildungsurlaub zurück in die Schule kommen – verständnisvoller und effizienter kommunizieren zu können.
Mittlerweile weiß aber auch das pädagogische Fachpersonal, dass sich der sozialintegrative Führungsstil überlebt hat. Auch der Protagonist dieses Erfahrungsberichtes weiß das aus leidvoller Erfahrung und übersetzt die mit einer Bitte im elaborierten Code vorgetragenen Befehle in die Sprache, die er bei Feldstudien mühsam erworben hat. Er sagt zB. nicht mehr: Bitte gib die Füße vom Tisch! Er sagt mittlerweile (- und der Erfolg gibt ihm recht): Gib de Bock vom Tisch. Bist net bei dir daham. Oda wülst a Nuß’n, a Ohrwaschelreiberl, a Brennessel oda a Stereowatsch’n? Entscheid di! Er sagt auch nicht mehr: Bitte, seid ein bisschen leiser. Man hört ja sein eigenes Wort nicht. Erstens kommt das nicht vor. Aber falls doch einmal Unruhe aufkommen sollte, sagt er: Wenn’st net glei gusch seid‘s, es G’sind’l, dann zag i euch, wo Gott wohnt.
Nach letzten – vom Stadtschulrat geheim gehaltenen Meldungen – soll es sogar Pädagogen geben, die sich um die erstrebte, aber bald schon verwirklichte Integration von sogenannten ausländischen Seiteneinsteigern so bemüht zeigen, dass sie diesen Code sogar in den Muttersprachen ihrer Klientel beherrschen. Übrigens haben die Lehrergewerkschaften beider Fraktionen durchgesetzt, dass Lehrkräfte an Schulen mit einem Anteil von 90% nicht muttersprachlicher Kinder Anspruch auf Fortbildungsseminare haben, in denen sie an Wochenenden und ausschließlich außerhalb der Schulzeit in nonverbaler Kommunikation und Pantomime geschult werden. Diese Seminare sollen sich – nach Auskunft der für die Öffentlichen Schulen zuständigen Behörde – größter Beliebtheit erfreuen. Mittlerweile haben sich auch alle Bundeskanzler, Präsidenten und Innenminister der Alpenrepublik die Gebärdensprache angeeignet, um ihren sinnentleerten Stehsätzen mit simulierten Würgegriffen oder seltsam überkreuzten Händen, die an das Anlegen von Handschellen erinnern, Nachdruck zu verleihen.
Die Stunde ist um. Der Lehrer muss sich eingestehen, dass er keines seiner drei Teilziele auch nur im Ansatz erreicht hat. Vielleicht das dritte? Manipulation durch sozialtechnische Steuerung? Jedenfalls war die über die Klasse verhängte, aber an der Durchsetzung gescheiterte Kollektivstrafe Anschauungsunterricht für autoritären Führungsstil im Mikrokosmos der Schule. Eigentlich könnte er sich damit trösten, denkt der Lehrer, dass Dollfuß und Schuschnigg auch gescheitert sind. Der Personen- und Sachschaden hat sich in ortsüblichen Grenzen gehalten. Jetzt aber weiß er nicht, ob er sich darüber freuen kann, die Stunde überstanden zu haben, oder sich fürchten muss, weil er Pausenaufsicht hat. Die Hausordnung nämlich umfasst selbstredend alle unter Verbot gestellten Bedürfnisse, die von Schülern und Schülerinnen in den Pausen entwickelt und gestillt werden wollen. Kluge Lehrer und Lehrerinnen halten es deshalb mit der Aufsichtspflicht wie mit dem aus der Psychologie bekannten Double Bind. Das Spiel heißt: Wir wissen, was ihr wollt und wir verstehen das ja, aber ihr wisst, dass ihr das nicht dürft. Haben wir uns verstanden?
Da der schulfeste und pragmatisierte Lehrer der Gehaltsstufe L2A1 – alles berufliche Attribute, die auf die zu Unterrichtenden keinerlei Eindruck machen – unter anderem auch Deutschlehrer ist, und ihm seine Mutter immer wieder in den Ohren liegt, viele vom Aussterben bedrohte Wörter und ihr grammatikalischer Gebrauch zum Gegenstand von Unterricht zu machen, setzt er sich natürlich dem Risiko aus, immer öfter nicht mehr verstanden zu werden. Eine Wendung wie „sich der Möglichkeit beraubt finden“ wäre aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal im Gymnasium der Oberstufe verstanden worden und es disqualifiziert ihn vollends, von ihr in Öffentlichen Schulen der Stadt Gebrauch zu machen, in denen kosmopolitische Diversität herrscht, und Deutsch durch den Zuzug aus so vielen Kulturen eine Anpassung erfährt, die ohne Geschlecht, Zahl und Fall oder gar Präpositionen auskommt.
Dieses Satzungetüm zB. Unmöglich. Nimm dir ein Beispiel an der Frau Direktor, ermahnt er sich immer wieder, wenn ihm so eine gestelzte Wendung wie „sich der Möglichkeit beraubt finden“ in der mündlichen Rede unterkommt. Die Vorgesetzte spricht mit dem Lehrkörper wie eine Mutter mit einem schwerhörigen, leicht debilen Kind. Das mag das vom Autor dieses in der Ära Waldheim verfassten Erfahrungsberichtes angefertigte Protokoll aus der letzten Konferenz illustrieren, das ihm als leuchtendes Beispiel für redundante Sprache dient, wie sie die kulturelle Diversität in den Klassen voraussetzt: Und jetzt zu den G’schafterln. Wir sind mehr Lehrer als es G’schafterln gibt. Wie sie ja alle wissen, gibt es bezahlte und unbezahlte G’schafterln. Jeder will natürlich ein bezahltes G’schafterl. Aber das geht nicht. Das muss jedem klar sein, dass nicht alle ein G’schafterl haben können… usw. usf.
Einen so schwierigen Sachverhalt in so einfachen Worten darstellen zu können – fast möchte er die gewagte Satzkonstruktion mit Celan’schen Fugen vergleichen – ist einfach bewunderungswürdig. Das erst macht einen Chef zum Chef, dass er sich auf das Sprachniveau seiner ihm Untergebenen einstellen kann.
Jetzt hat er ein Fenster, wie die euphemistische Umschreibung für Löcher im Stundenplan heißt, die für Raucher wie Nichtraucher zwar arbeitszeitverlängernd, dafür aber Lebenszeit verkürzend wirken. In besagtem Fenster hat er Zeit darüber nachzudenken, was ihn einst veranlasst hat, diesen Beruf ergriffen zu haben.
PS.: Von den beinahe 40 Jahren hat er erst in den letzten 12 Jahren nicht bereut, Lehrer geworden zu sein, weil er das Glück hatte, sowohl eine für seine medienpädagogischen Anliegen offene Leiterin als auch eine überaus verständnisvolle Teamkollegin gefunden zu haben.
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