12 Okt Raum mit spitzem Winkel
Der Raum hatte ein Eck, auf den die schmalen Wände spitzwinkelig zuliefen. Er konnte gegen sein Ende zu nur noch in gebückter Haltung betreten werden. Es war ein Raum, den niemand so geplant hatte. Welcher Architekt sollte sich auch so etwas, – nicht einmal für einen Stauraum Geeignetes -, ausdenken? Aber er war da. Er sah ihn vor sich.
Was ihn dorthin gelockt, warum er sich dort aufgehalten hatte? Er weiß es nicht. Jedenfalls war er dort gewesen, denn er musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass er genau dort seine sündteure Kamera mitzunehmen vergessen hatte. Er sah sie schon von Weitem, aber es wollte keine Freude darüber aufkommen, denn er ahnte, dass er sie nicht mehr so auffinden würde, wie er sie zurückgelassen hatte. Und so war es auch. Es war keine Kamera mehr. Was er in Händen hielt, war ein leeres Gehäuse, aus dem Linse, Elektronik und Mechanik entfernt worden waren. Eine Attrappe war sie jetzt. Mehr nicht.
Als er sich umdrehte, sah er sich einer Bande von Jugendlichen gegenüber. Sie waren es, die seine Kamera unbrauchbar gemacht hatten. Was sollte er da noch verhandeln, außer zu schauen, dass er sich schleunigst aus dem Staub macht. Sie machten aber keine Anstalten, ihm den Weg freizugeben.
Er stand mit dem Rücken zur Wand, die sich an ihrem Ende zu diesem spitzen Eck verjüngte, in welchem er die Kamera gefunden hatte. Angreifen oder Fliehen. Mehr Möglichkeiten gab es nicht. Beides sind keine Möglichkeiten, denkt er jetzt. Hat Gewaltbereitschaft einen Geruch? Er kann sie riechen. Oder ist es seine Angst? Er hört das Rasseln der Fahrradkette, die einer von den Jugendlichen in lässiger Gebärde über den Boden schleifen lässt. In die Enge getrieben war er. Verloren.
Unter den Jugendlichen aber einer, dem die Situation sichtlich unangenehm ist; er will die anderen zum Rückzug überreden: Lasst ihn doch. Wir hatten unseren Spaß, die Kamera ist kaputt. Er kann nichts mehr mit ihr anfangen.
So redet er auf die anderen ein. Plötzlich weiß er, dass dieser Jugendliche ein ehemaliger Schüler war. Er bedauert den Vorfall und entschuldigt sich und die anderen damit, dass ihre Arbeitslosigkeit sie zwinge, sich mit Diebstahl über Wasser zu halten. Auch sei es nicht eigentlich ein Diebstahl, da sie immerhin das Gehäuse zurückgelassen hätten.
Jetzt, wo er einmal selbst in eine Situation geraten war, die zu dokumentieren – und später, nachdem er sich gerettet haben würde – multimedial aufzubereiten, Sinn gemacht hätte, erst jetzt dämmerte ihm, dass er in einem Traum gefangen war; ein Traum, der ihm dringend empfahl, die jahrelang eingenommene Perspektive zu ändern und nicht nur seine mit dem dritten Auge wahrgenommene Welt, die er fast zwanghaft dokumentieren zu müssen glaubte, aufzugeben, sondern sich – in Anschauung des spitzwinkelig zulaufenden Endes als einer Metapher für den unvermeidlichen Tod, auf das Wesentliche zu besinnen.
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MAXA
Posted at 07:36h, 18 MaiDiese Geschichte hat mich sofort gepackt. Mich würde interessieren, ob Du Deine Erkenntnisse noch im Traum empfunden hast, oder ob es sich dabei um Deutung im Wachen handelt…
Helmut Hostnig
Posted at 11:50h, 18 MaiNein, liebe Andrea, die Deutung kam später. Mit dem Raum konnte ich ursprünglich nichts anfangen. Freundinnen haben es so gedeutet und ich habe diese Deutung sofort akzeptiert, weil ich sie sehr schlüssig fand.
Danke für Kommentar und Anfrage
Manfred Voita
Posted at 22:15h, 17 MaiAuf das Wesentliche besinnen – ja, dazu wären wir alle bereit, jedenfalls immer dann, wenn es gefährlich wird, wenn für einen Moment deutlich wird, dass es eben nicht einfach immer so weiter geht. Nur: Was ist das Wesentliche? Ist das die Familie, für die hier der verschwundene Vater stehen könnte? Gibt es so etwas wie das Wesentliche überhaupt?
Helmut Hostnig
Posted at 11:48h, 18 MaiLieber Manfred
Würde gerne deine Frage in den Beitrag aufnehmen; allerdings würde es deinen Kommentar konterkarieren. Bist du mit dem Schluss einverstanden: M. aber fragt zu Recht: Was ist das Wesentliche? Gibt es das Wesentliche überhaupt?
Danke für Kommentar und berechtigte Frage.
Manfred Voita
Posted at 12:28h, 18 MaiLieber Helmut,
ja, natürlich. Den Kommentar kannst du ja einfach entfernen.
Viele Grüße
Manfred
Helmut Hostnig
Posted at 21:10h, 17 MaiLieber Jonas. Danke für dein unermüdliches Liken meiner Beiträge