16 Okt Vilnius zwischen gestern und heute
Eine Woche Vilnius. Warum Litauen’s Hauptstadt? Weil dort zum sechsten Mal die International Biennial of Contemporary Metal Art/ METALLOphone: Memory of the Place (2022) in den Räumen des Litauischen Nationalmuseums stattfindet, an der auch meine Lebensgefährtin Susanne Hammer teilgenommen hat.
Übrigens war Vilnius 2009 mit Linz Kulturhauptstadt Europas und feiert 2023 700 Jahre seines Bestehens. Mit der 1579 gegründeten Universität ist Vilnius eine der ältesten Universitätsstädte Europas. Die Innenstadt ist nicht ohne Grund Weltkulturerbe, hat sie doch aufgrund der über 50 Kirchen in den Baustilen von Gotik, Renaissance über Barock bis Klassisizismus den schönen Beinamen Rom des Ostens. Das andere schmückende Beiwort „Jerusalem des Nordens“ hat es verloren, nachdem nationalsozialistische Kommandos die im Getto der Altstadt lebenden Juden, – damals 30% der Bewohner -, kolonnenweise in den nahen Wald von Ponar zur Erschießung gebracht haben. Zwischen 1941 und 1944, während der Nazi-Okkupation, starben 200 000 jüdische Litauer. Kaum war Nazideutschland besiegt, geriet Litauen unter sowjetische Herrschaft und stalinistischen Terror. Nicht vom Regen in die Traufe, von einer Traufe in die nächste. 350 000 Litauer verschwanden in Sibirien.
Nicht ohne Grund an allen Ecken und Enden der Stadt Solidaritätsbekundungen für die von Russland überfallene Ukraine. Über 60 000 Flüchtlinge hat Litauen aufgenommen. Und das bei einer Bevölkerung von knapp 3 Millionen. In Österreich mit fast 9 Millionen Einwohnern wird die Anzahl der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit Stand vom Oktober 2022 mit 14 Tausend angeführt. Gleichzeitig werden Zeltstädte errichtet. Nicht so in Litauen, das eine Inflation von über 20% erreicht hat, während es in Österreich beim Stand von Oktober noch 10% sind.
Obwohl Russisch neben Litauisch die zweitwichtigste Sprache ist, die Abneigung gegen alles Russische bleibt spürbar. Solidarität wird auch mit Taiwan geübt. Litauen hat als einziges Land in der EU eine taiwanesische Repräsentanz, was einen Handelsboykott von seiten Chinas zur Folge hatte und die EU zwischen die Fronten geraten ließ.
Hat es mit der Sicherheitslage zu tun? Mit den Drohgebärden der Russischen Föderation? In Litauen leben 6% Russen. Wenig, verglichen mit Estland und Lettland. Trotzdem eine Gefahr? Ja, weil befürchtet wird, dass sie sich als bedrohte und unterdrückte Minderheit sehen könnte, die jederzeit um Hilfe und militärischen Beistand rufen kann, wie es auf der Krim oder in den kürzlich annektierten Gebieten in der Ukraine geschehen ist.
Es ist zu hoffen, dass es der nachkommenden Generation und deren Enkeln gelingt, die traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern zu überwinden. Jedenfalls will die Jugend an eine Zukunft glauben, wenn man die vielen kleinen Nischenbetriebe als einen Beweis dafür sehen will. Trotzdem: Eine seltsame Schwere hängt wie eine gewaltige Glocke über der Stadt und ihre Bewohner. Es waren nur wenige Begegnungen, und ich tue vielleicht den Menschen unrecht, aber sie schienen mir den Fremden gegenüber distanziert und indifferent zu sein: weder freundlich noch unfreundlich. Gespräche, die nur über Fragen in Gang gehalten werden. Eine Höflichkeit, die der Dienstleistung geschuldet ist. Nichts darüberhinaus. Lachen, herzhaftes Lachen haben wir in dieser Woche nie gehört.
Rentnerinnen stehen in der Kälte und versuchen Blumen, Nüsse und Zwetschgen aus ihren Gärten zu verkaufen. Wo aber sind die Bettler und Obdachlosen? Es riecht nach Öfen, in denen Holz und Kohle verbrannt werden. In der Markthalle selbst, die wir bald wieder enttäuscht verlassen, russische Medikamente, Tee, eine Kafferösterei, billige Textilien, Baumwollsocken, Uschankas (russische Pelzmützen), wenig Fleisch.
Milchglasige Laternen, die in der Altstadt ein honiggelbes Licht auf die geweißten Wände werfen. Während Altstadt und Kirchen aufwendig saniert werden, muss man aufpassen, nicht über Schlaglöcher und Risse auf den Gehwegen zu stolpern, sobald man sie verlässt. Enge Gassen, Kopfsteinpflaster, Jugendstilfassaden, Mauern von alten Wehranlagen, Gebäude, die wie Karawansereien anmuten. Die litauische Küche trendet mit traditionellen Rezepten. Gutes Bier. Ein Achterl Wein zwischen 5 und 6 Euro. Für die Lebensverhältnisse der Leute hier alles ziemlich teuer. Eine ehemalige gotische Kirche, die mit eingezogenen Zwischendecken dem KGB als Räumlichkeit diente. Heute beherbergt es eine Gaststätte, in welcher jugendliche mit Downsyndrom bedienen.
Menschen, die durch das Tor der Morgenröte gehen, schlagen das Kreuz, wie es die Pilger, Schutzsuchenden und Reisenden schon im Mittelalter gemacht haben, nur nicht barhäuptig. So nämlich war damals die Madonna – selbst im bittersten Winter – zu begrüßen, wer nicht verhaftet werden wollte.
Haupttransportmittel sind Busse. In der Innenstadt fährt noch eine elektrisch geführte Bahn mit rostzerfressenen Waggons, die bei uns schon längst entsorgt worden wären.
Die vielen Grafittis zeugen von einer bunten Kulturszene, die zumindest im zur Republik erklärten Stadtteil „Uzupio“, der litauischen Version von Christiana in Kopenhagen, zur Gentrifizierung geführt hat. Uzupis heißt in der litauischen Sprache, die als eine der ältesten indogermanischen Sprachen gilt, jenseits des Flusses. Auch die Galerie von Literaten (225) in der Altstadt haben wir besucht. Am Anfang waren die Widmungen nur litauischen Dichtern vorbehalten, dann aber für Schriftstellerinnen weltweit. Noch ist das Projekt nicht abgeschlossen. Nach einem längeren Fußmarsch vom Bahnhofsviertel in die Gegend, in welcher sich die Industrie angesiedelt hat, überraschte uns die Open Galery, ein urbanes und interdisziplinäres Langzeitprojekt, das litauische Künstlerinnen mit ausländischen zusammenführen soll, mit fantasievollen Grafittis auf Fabrikwänden, Installationen und Skulpturen im öffentlichen Raum. Übrigens wurden Frank Zappa und John Lennon als Denkmäler verewigt, eine Geste des Aufbruchs nach der staatlichen Zensur in der für die Litauer steinschweren Zeit zwischen 1945 bis 90 durch die damalige Sowjetunion. 2004 wurde Litauen Mitglied der EU und der NATO.
Wie wir auch in Georgien festgestellt haben, ist die oft innovative und gewagte Architektur aus der Sowjetzeit dem Verfall preisgegeben. So auch der Sportpalast am Ufer der Neris, dessen Dachkonstruktion eine Welle vom Fluss Vilnia nachbildet, dem die Stadt ihren Namen verdankt. Auf dem Turmhügel der restaurierten Gediminas-Burg ist ein Panoramablick aus der Vogelperspektive über die roten Dächer der Altstadt, die Kirchturmspitzen und verwinkelten Gassen möglich.
Natürlich durfte der Besuch eines Friedhofs nicht fehlen, sind Friedhöfe doch Orte lebendiger Geschichte. Der Rasosfriedhof ist einer der ältesten in Litauen – angelegt im Jahr 1796 – liegt er eingebettet in einer von der Eiszeit geformten Hügellandschaft, in der sich über 200 jahralte Gräber mit uralten Bäumen den Platz streitig machen. Dort, zwischen den Hügeln, gab es schon Beisetzungen, bevor Litauen als eines der letzten Länder Europas christianisiert wurde.
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Helmut Hostnig
Posted at 17:50h, 24 OktoberDanke Zuni fürs Lesen und Kommentieren
Zuni
Posted at 10:52h, 23 OktoberSehr interessant! Danke, dass du deine Eindrücke über das Land mit uns teilst.