Bolero

Ein Mann in einem schwarz-weiß-geblümten Hosenanzug geht auf dem Mittelstreifen einer vielbefahrenen Straße. Er geht wie ein Zirkusclown: die Füße nach außen gerichtet. Dann wieder hüpft er, als wäre mit nur für ihn sichtbarer Kreide Himmel und Hölle auf den Asphalt gemalt. Er hüpft und geht ohne Wahrnehmung für das, was in seinem Umfeld geschieht. Der brandende Verkehr kümmert ihn nicht. Seine weißen Haare sind zu einem Zopf geflochten, und wer ihn sieht, erschrickt: Sein Gesicht ist mit Clownsschminke grundiert; kreisrund sind die Augen geschwärzt; der mit Lippenstift verschmierte Mund, dessen Winkel bis zu den hohlen Wangen hinaufreichen, erinnert an den Joker, der vor dem Spiegel seine verstörenden Grimassen übt. Der Mund ist ein Loch, dem die Zähne fehlen; und erst die mit einem Haarpinsel nachgezeichneten Falten der Haut: wie von einem im Keller vergessenen Apfel. Der tänzelnde Schritt, der Zylinder, der Gehstock, dessen Knauf ein Totenkopf aus Elfenbein schmückt:  die ganze Erscheinung strafen sein Alter Lügen. Ich zumindest bin von seinem dandyhaften Auftreten und seiner zur Schau getragenen Obsession für den Tod so von ihm fasziniert, dass ich ihm folge; wüsste nur zu gern, wer er ist und was er vorhat. Vermute einen Mann, der es noch einmal wissen will. Das geht nicht nur mir so. Eine ganze Prozession folgt ihm zu beiden Seiten der Straße. Könnte ich nur verstehen, was er sagt, aber es sind nur unartikulierte Laute, den fehlenden Zähnen geschuldet; heiser und zornig hervorgestoßene Laute, gestisch unterstrichen von der Faust seiner rechten Hand, die er gegen den farblosen Novemberhimmel reckt. Ich verstehe kein Wort, aber weiß, dass er in seiner Sprache flucht. Da er den Verkehr behindert, wird er von den Autofahrern beschimpft. Das macht ihn noch zorniger, als er schon ist. Mit seinem Gehstock drischt er auf die Autos ein. Dabei fällt ihm zuerst der Zylinder, dann die Perücke vom Kopf. Auch sein Schädel ist tätowiert. Die Glatze wird von verfilzten Strähnen weißer Haare gerahmt, die ihm bis über die Schulter reichen. Nicht ihm. Ihr. Jetzt erst sehe ich, dass es eine Frau ist, deren Busen pupurfarben aus dem Mieder quillt. Sie ist entweder in einem Alter, die keine Scham mehr kennt, oder es ist ihr etwas so Fürchterliches widerfahren, dass sie sich nicht mehr darum schert, wie sie aussieht, und ob sie Anstoß erregt oder nicht.

Der Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Ein wütendes Hupkonzert zerfetzt die Luft und fragt nach der Ursache für den Stillstand. Aus einem Autoradio dringt ein stampfender Rhythmus. Wenige Takte genügen, und ich erkenne den Bolero von Ravel. Einige Autofahrer sind ausgestiegen. Einer hat die Perücke aufgehoben. Als die Frau auf ihn zugeht, um sie wieder in Besitz zu nehmen, wirft er sie einem anderen zu, und dieser wieder einem anderen, bis sie einen Kreis gebildet haben, in welchem die Frau Ausfallschritte unternimmt. Diese setzt sie – sich ums sich selbst drehend, als hätte sie die Choreografie schon lange einstudiert – im gleichen Rhythmus des Bolero, der weder Tonlage noch Harmonie verändert, dafür aber durch das Hinzufügen immer neuer Instrumente und der zunehmenden Lautstärke an Intensität gewinnt. Aus dem Spiel ist Ernst geworden. Ich scheine der einzige zu sein, dem das auffällt. Das kann nicht gut ausgehen. Da bin ich mir sicher. Begreift ihr denn nicht? will ich ihnen zurufen: Wisst ihr denn nicht, mit wem ihr euch anlegt?

Was ich zuerst für einen Mann, dann für eine Frau hielt, ist nun ohne Geschlecht. Ein ES. Um ES bis aufs Äußerste zu reizen, hat ein Mann sich den von einem Reifen zerquetschten Zylinder aufgesetzt. Das hätte er besser nicht getan. Als ES ihn sieht, wirbelt ES herum – niemand hätte ihm diese Behändigkeit zugetraut – und trennt mit einem einzigen Hieb seines Gehstockes dessen Haupt vom Rumpf. Kopflos torkelt der Körper auf ES zu und stürzt nach wenigen Schritten wie ein gefällter Baum zu Boden. ES nimmt den Zylinder, klopft ihn aus und setzt ihn sich wieder auf. Namenloses Entsetzen macht sich breit; die Männer, die eben noch ihre Scherze mit ihm getrieben haben, suchen ihr Heil in ihren Fahrzeugen. Noch aber hat ES nicht genug von der süßen Frucht der Rache gekostet. Mit seinem Gehstock zertrümmert es die Front und Heckscheiben der Autos, die sich beim Versuch, seinem tödlichen Toben zu entkommen, ineinander verkeilen. Im rasenden Crescendo des Bolero, der sich dem Höhepunkt nähert, dreht ES sich immer schneller um sich selbst.

Auf den Straßen brennen aufgeschichtete Reifenberge. Es riecht nach nicht mehr bezähmbarer Wut; es stinkt nach verbranntem Gummi, nach Haar, das in Flammen steht. Frauen mit Scheren in ihren Händen. Haare, die Scheren zum Opfer fallen. Frauen, die aufgehört haben zu weinen. Eltern, die hinter den Särgen ihrer Kinder sich zu deren Gräbern schleppen. Wie rasendes Feuer hat sich die Nachricht verbreitet, dass das Regime junge Männer hinrichten lässt, weil sie einen Krieg gegen Gott geführt hätten.

Eine junge Frau mit einem schwarz-weiß-geblümten Hosenanzug steigt auf das Dach eines blauen Chevrolet, wirft den Hijab in den Wind und die Hände in die Luft und ruft: (زن زندگی آزادی!

 

 

Views: 7

No Comments

Post A Comment

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.