Diesen Typen aber in seiner abgewetzten Lammfelljacke, dem gehetzten Blick und dem pockennarbigen Gesicht möchte er loswerden. Außerdem: Wie kommt er dazu, ihn zu duzen? Er sagt also:
Da müssen Sie sich ein anderes Taxi suchen. Ich mach jetzt Feierabend. Der Pockennarbige, der schon ausgestiegen war, bückt sich, um mit dem Fahrer auf Augenhöhe zu kommen, krallt sich mit beiden Händen am halbgeöffneten Seitenfenster fest und wiederholt mit nasser Aussprache – jede Silbe betonend: Du – machst – jetzt, – was – ich – dir – sage!!!
Verstanden?
Ich will jetzt nicht mehr von mir in der dritten Person erzählen. Warum soll ich so tun, als wäre das alles nicht mir, sondern einem anderen passiert. Einverstanden?
Während ich noch versuche, die Seitenscheibe zu verriegeln, drückt er sie mit beiden Händen mit aller Gewalt nach unten. Der Seilzug kann gegen diesen Widerstand nichts ausrichten. Ich lege den ersten Gang ein und steige aufs Gas. Im Rückspiegel sehe ich, wie der Mann die Fäuste gegen den Himmel reckt. Da die Lizenz mir gehört, muss ich nicht fürchten, mich für mein Verhalten bei einem Chef rechtfertigen zu müssen.
Niemand sagt mir, was ich zu tun habe. Niemand. Mich interessiert seine Geschichte nicht und auch die nicht, in die ich da hineingeraten wäre. Dass mit ihm etwas nicht stimmt, war mir schon klar, als er Platz genommen und ohne Gruß und Bitteschön ein kehliges Rüdigergasse herausgewürgt hat, und auf meine Frage, ob es vielleicht etwas genauer ginge, aggressiv wurde: Fahr! Fahr einfach! Und dann kein Wort mehr, obwohl er die Lippen bewegt hat, als würde er beten. Ich hab‘ schon viele kaputte Typen gefahren. Das kannst du mir glauben. Aber ich habe aufgehört, mir alles gefallen zu lassen. Da verzichte ich lieber auf die paar Lappen. Machen das Kraut auch nicht fett.
Gut, das ist noch keine Geschichte. Aber ich schwöre dir, hätte ich seinem seltsamen Verhalten auf den Grund gehen wollen, wäre es eine geworden. Ich kann nur vermuten, dass er in etwas verstrickt war, was mich zum Eingreifen gezwungen hätte.
War kaum um’s Eck, stürzt eine Frau auf die Fahrbahn, und mir – auf meine Fahrkunst vertrauend – direkt vor die Kühlerhaube. Sie ist so durch den Wind, dass sie nicht weiß, welche Adresse sie angeben soll. Sie weint. Jetzt sehe ich, dass sie eine Platzwunde hat. Die Haare sind blutverklebt. Ich rate ihr, ins Spital zu gehen, aber sie lehnt ab.
Darf ich zu dir kommen? fragt sie. Und: Bist du allein?... Das erzähle ich dir, wenn ich bei dir bin. Gut, wenn du es unbedingt jetzt schon wissen willst, ja, er ist tot. Mach den Mund auf und die Augen zu!, hab ich zu ihm gesagt! Er hat es für einen Witz gehalten. Er hat geglaubt, ich spiele. Er hat die Augen zugemacht und den Mund aufgerissen. Sperrangelweit. Dann hab ich abgedrückt, und das Blut ist auf die gerahmten Fotos unsrer Hochzeit gespritzt… Jetzt kann er mich nicht mehr schlagen. Nie wieder. Auf gleich, ja? Was? Du bist nicht allein. So eine Scheiße. Ich hab dich nie um etwas gebeten, aber … Schon gut. Hab verstanden. Mist. Mist. Mist, sagt sie jetzt, indem sie drei Mal mit der Faust auf die Rückseite des Vordersitzes trommelt. Sie steckt das Handy in ihre Handtasche und kramt nach einem Spiegel. Sie zupft ihre blutverschmierten Haare zurecht und gibt den Spiegel wieder in die Handtasche.
Die Frau schaut zum Fenster hinaus, an dem eine Landschaft vorbeizieht, die keine mehr ist. Das ist jetzt aber nicht wahr?, frage ich und schaue in den Rückspiegel. Natürlich nicht, sagt die Frau. Hab nur Spaß gemacht.
Spaß gemacht? Machen sie das öfter? Erzählen eine Horrorgeschichte? Einfach so? Um Spaß zu machen? Sie haben einen seltsamen Humor, muss ich sagen. Entschuldigen sie, wenn ich frage, aber ihre Platzwunde… Wie ist es dazu gekommen? War das auch Spaß?
Die Frau lächelt, schweigt aber. Er schätzt sie auf 40. Schwer zu schätzen mit der Maske. Ein bisschen durchgeknallt, aber sicher hübsch, wenn er sich den Rest zu den ausdrucksvollen Augen dazu denkt.
Was wollen Sie jetzt machen?, frage ich. Die Wunde muss behandelt werden. Schaut schlimm aus.
Schaut nur so aus. Bei mir rinnt das Blut, dass ich manchmal glaub, ich rinn aus. Haha. Das machen die Tabletten, dass das Blut nicht mehr gerinnt.
Er kennt das. Vermutlich die gleichen Tabletten, die seiner Pumpe beim Durchbluten helfen sollen. Haben Sie’s auch mit dem Herz? will er sie fragen, lässt es aber. Was geht mich das an, murmelt er.
Draußen tobt ein Sturm. Niemand mehr auf der Straße. Ab und zu ein Einsatzfahrzeug. Sirenen. Er schaut auf den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, ob es sein Fahrgast noch schafft, oder dabei ist zu kollabieren. Das Blut, das ihm über die Schläfe rinnt, wird mir die Rückbank versauen, denkt er. Ihm? Ja, ihm. Fahrgast ist männlich. Generisches Maskulinum. Grammatikalisch richtig, auch wenn es sich komisch anhört. Aber Gästin kommt mir nicht über die Lippen. Wie kannst du in der Situation, in welcher du dich grad befindest, die Problematik des Genderns im Deutschen … Das ist jetzt aber nicht dein Ernst. Was solls? Du wolltest eine Geschichte. Jetzt hast du sie. Wenn du neugierig bist, wie sie ausgeht, dann frag sie, ob sie mit dir nicht auf einen Kaffee gehen will. Ich führe oft Selbstgespräche, müssen sie wissen. Das verkürzt mir die Zeit an den Standplätzen. Mit den Kollegen mag ich nicht plaudern. Für die bin und bleib ich ein Ausländer. Da kann ich schon in dritter Generation hier geboren sein und den Pass haben. Für die Einheimischen hier bleib ich und bin ich ein Ausländer.
Wohin soll ich Sie jetzt bringen? Ins Spital wollen Sie nicht. Zu ihrem Freund können Sie nicht.
Ist nicht mein Freund, faucht sie.
Ich übergehe ihren Einwand und stelle mich vor. Fabrice. Ich heiße Fabrice.
Und ich bin die Telma. Wo wohnen Sie? fragt sie übergangslos.
Wie wär’s, wenn wir uns duzen, jetzt nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt haben? Ich wohne ungefähr eine Stunde von hier. Ich kann dich zu mir mitnehmen, wenn du das willst. Deine Wunde versorgen, dir eine Schlafgelegenheit anbieten. Es ist nicht sehr luxuriös bei mir, wenn dir das nichts ausmacht.
Sind sie verheiratet? fragt sie, indem sie sich mit ihren Armen auf den beiden Sitzen abstützt und sich zu ihm hin beugt. Eine platzgreifende Geste, die ich aber so deute, dass sie sich mir anvertrauen will. Ich nehme die Maske ab. Sue tut es mir gleich. Ich bin kein Taxifahrer mehr. Was aber bin ich dann? Bist du verheiratet? wiederholt sie. Ich schweige.
Natürlich bist du verheiratet. Sonst würdest du ja keinen Ring am Finger tragen. Mir ist das unangenehm. Außerdem: Was geht es sie an? Ich hätte ihr nicht das Du-Wort anbieten sollen. Jetzt ist es zu spät.
Gerade noch rechtzeitig kann er einem großen Ast ausweichen, den der Sturm einem Baum ausgerissen und auf die Fahrbahn geschleudert hat.
Donner rollt über die nahen Berge, Blitze durchzucken den violetten Himmel mit den El Greco-Wolken, die sich gegenseitig jagen. Und dann ein Sturzbach von Regen. So dicht, dass auch die Scheibenwischer nichts mehr ausrichten und er an den Straßenrand fährt, um das Ende des sintflutartigen Regenfalls abzuwarten.
Wie aus der Zeit gespült, kommen sie sich vor. Der Regen prasselt auf das Autodach. Sie schweigen und fühlen sich geborgen, als wäre das Auto ein Zelt, und sie beide im Urlaub, überrascht vom Zufall, der sie zusammengeführt hat. Der Sturzregen hat zwar nachgelassen, nicht aber der Sturm. Er nimmt die nächste Ausfahrt.
Ein Feuerwehrauto blockiert die Straße zum Hafenviertel. Ein Mann mit Helm und gelbem Schutzanzug kommt auf sie zu: Sie müssen umkehren! sagt er. Sie kommen hier nicht weiter.
Was heißt: Sie kommen hier nicht weiter? Ich wohne da. Wir wohnen da, korrigiere ich mich. Es ist das erste Mal, dass ich nachweisen muss, im Hafenviertel zu wohnen, um nach Hause zu kommen. Das ist Sperrgebiet, sagt der Mann im Schutzanzug. Die Elektrizität ist ausgefallen. Der Sturm. Sie können da nicht durch. Übrigens: Wo ist ihre Maske?
Hey, sage ich zu ihm: Komm von der Doppelschicht. Ich wohne hier.
Der Mann ist misstrauisch und leuchtet mit seiner Taschenlampe ins Wageninnere: Jaja, meiner Frau geht es nicht gut. Hat einen kleinen Unfall gehabt.
Endlich werden sie durchgewunken. Er fragt sich, warum er die Frau, die sich Telma nennt, als seine Frau ausgegeben hat. Welcher Teufel reitet mich? Ich hatte doch vor, mich aus allem rauszuhalten.
Telma. Was ist das für ein Name? Bist sicher nicht von da, oder? Vielleicht sagst du mir jetzt, wie das passiert ist mit deiner Platzwunde? Möchte schon wissen, wen ich bei mir aufnehme. Ein bisschen musst du mir schon vertrauen, Telma. Noch immer schweigt sie, was ihn zu beunruhigen beginnt.
Weißt du, vom Fenster aus kann man die riesigen Tanker sehen, wie sie beladen oder entladen werden, ein- oder auslaufen. Immer großes Kino. Tag und Nacht hektisches Treiben inklusive Lärm. Aber an den hab ich mich gewöhnt. So habe ich immer die Illusion, am geschäftigen Leben der Menschen teilzunehmen. Zumindest indirekt, indem ich ihnen bei ihrem Tun zuschaue.
Du schaust gern zu, stimmt’s? fragt ihn eine Stimme, die keine physische Präsenz hat. Schon wieder hat er mit sich selbst gesprochen. Er schaut in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, aber da ist niemand. DA IST NIEMAND.
Jetzt sitzt er im Auto und schaut auf den Hafen, wo die Wellen gegen die Kaimauern anbranden und die Gischt über die Heck- und Frontscheibe spritzt. Den Ehering von einem Finger der linken Hand auf den Ringfinger der rechten Hand hin- und her tauschend, fragt er sich, was das für eine Geschichte war mit Telma und ob es eine hätte werden können. Außerdem: Was trage ich eigentlich noch diesen Ring? Bin ich nicht seit Jahren geschieden?
Nein. Das ist keine Geschichte. Aber es könnte vielleicht eine aus ihr werden, raunt die Stimme in seinem Kopf, die sich als Lektor eines Verlages ausgibt, der erst noch gegründet werden muss.
No Comments