Jetzt sitzt Karl da, schwitzt in diesem überheizten Raum, an dessen einer Glaswand eben eine vollbesetzte Gondel vorbeischwebt, und würde sich am liebsten wieder verabschieden.
Ich habe Greta und Gunther von deinen Reisen erzählt, versuchte der Professor jetzt schon zum dritten Mal, ihn an den Grund seiner Einladung zu erinnern. Beide warten schon gespannt auf deine Geschichten und wir natürlich auch. Stimmt’s, meine Liebe?
Er deutete ihr, sich auf seinen Schoß zu setzen, geradeso, wie man eine Katze oder einen Hund auffordert: Oder musst du wieder in die Küche? Willst du meinen Gästen nicht nachschenken? Das waren drei Aufforderungen, denen nachzukommen die Frau des Professors sich für die letzte entschied. Dann nahm sie einen freien Stuhl, platzierte ihn außerhalb des Kreises, den sie um den Tisch herum gebildet hatten, und setzte sich klappmessergleich auf seine Kante, um jederzeit sprungbereit zu sein.
Um sie miteinzubeziehen, richtete er das Wort an sie, ohne auf das immer drängendere Ersuchen des Professors einzugehen, ihn und seine Gäste mit den Schilderungen seiner Abenteuer zu unterhalten: Darf ich fragen, wie sie sich kennengelernt haben?
Sie hatte noch nicht einmal Zeit, über die an sie gerichtete Frage nachzudenken, als ihr Mann sie schon stellvertretend für sie zu beantworten begann: Oh, das ist eine ganz und gar lustige Geschichte, nicht wahr, meine Liebe?
Bevor er aber ausholen und die Geschichte erzählen konnte, unterbrach ihn sein ehemaliger Student, der Mann von Greta, Gunther mit Namen: Über welches Land – entschuldige Walter, wenn ich dich unterbreche – haben wir heute Gelegenheit, etwas zu erfahren, was nicht in Reiseführern steht? Peru vielleicht mit seinen so schwefelhaltigen Böden, die Enteneier blau färben?
Die Beharrlichkeit und das sarkastisch formulierte Ersuchen, doch endlich dem Grund der Einladung zu entsprechen, reizten den Gast, ebenso beharrlich zu schweigen. Während der Professor sich am offenen Kamin zu schaffen machte und Holz nachlegte, nahm er ein Windgebäck nach dem anderen aus der Schüssel und zermalmte es krachend zwischen seinen Zähnen.
Was in aller Welt, fragte er sich, hat mich dazu verführt, diese Einladung anzunehmen.
Wenn er herausfinden hatte wollen, welche Erinnerungen er mit Walter teilte, der behauptet hatte, mit ihm in die Schule gegangen zu sein, wurde er enttäuscht: Wie kann es sein, dass er meinen Namen weiß, wenn ich mich weder an seinen, noch an sein Gesicht erinnern kann? Auch wenn es nun schon fast dreißig Jahre her ist, dass er seine Heimatstadt verlassen hat, quälte ihn die Frage, warum ihn sein Gedächtnis so im Stich ließ.
Vielleicht war das der Grund, dass er keinen Vorwand erfand, um das Weite zu suchen. Vielleicht aber war es die Frau des Professors, der doppelt so alt war, wie sie schön, dass er bleiben wollte. Es war eine klassische fight or flight – Situation, in der er sich befand, und Karl hatte sich nach einem kurzen Augenblick der Erstarrung fürs Bleiben und – für den Kampf entschieden. Nicht der Professor, nicht Greta, und am allerwenigsten war es die Frau des Professors, deren Namen von ihr so gehaucht war, dass er ihn nicht verstanden hatte, gegen die er antreten wollte. Es war Gunther, der ihn herausgefordert und ihm den Fehdehandschuh hingeworfen hatte.
Er war gerade dabei, in Gedanken die feine Klinge zu wetzen, als der Professor, der in der Zwischenzeit in seinem Ohrenstuhl neben dem Kamin Platz genommen hatte, Greta um die Geschichte bat, wie sie zu ihrer Küche gekommen ist, nachdem (Nachsatz) der Gast nicht zu bewegen sei, von seinen Abenteuern zu berichten.
Es musste sich um eine lustigere Geschichte handeln als die, wie sich die beiden Gastgeber kennengelernt hatten, da der Vorschlag sofort mit großer Begeisterung von den beiden ehemaligen Studenten seiner Vorlesungen aufgenommen wurde.
Greta begann, angespornt von ihrem Mann und dem Professor: Eigentlich sollte Walter die Idee patentieren lassen. Wir haben sie ein bisschen modifiziert, stimmt’s Gunther?
Ja, das Punktesystem haben wir gemeinsam ausgetüftelt und Greta’s Bedürfnissen angepasst.
Die Leistungen, die ich erbringen hab müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen, waren ja auch unterschiedlich aufwendig, warf Greta ein.
Versteht sich von selbst, dass die Vorbereitung eines Frühstücks weniger Punkte bekommt, wie das Kochen einer Mahlzeit am Mittag oder eines Abendessens, ergänzte Gunther.
Ja, wir sind übereingekommen, dass Frühstück und Abendessen gleich zu bewerten sind, übernahm wieder Greta, als wäre es ein Pingpongspiel. Für jedes Haushaltsgerät musste ich eine ausgemachte Punktezahl erreichen.
Kommt mir bekannt vor, mischte sich das erste Mal die Frau des Professors ins Gespräch. Mit dem Unterschied, dass mein Mann sowohl das Ziel vorgegeben hat, als auch die Punktezahl, mit der ich es erreichen kann. Für einen Mixer musste ich zum Beispiel 150 Punkte zusammenbringen. Für den Staubsauger 450. Zu den Leistungen hat er alle Tätigkeiten gerechnet, die in einem Haushalt anfallen, stimmt’s, mein Schatz?
Dass es um die Ehe der beiden nicht gut bestellt war, war aus dem Tonfall zu schließen. Dem Gast jedenfalls schien es, als wolle sie ihn zum Zeugen ihrer erlittenen Demütigungen machen.
Wie dem auch sei, meinte der Professor, der die Geschichte zu einem Ende bringen wollte, weil sie nicht den von ihm erwünschten Verlauf zu nehmen versprach: Wir haben den letzten Winterurlaub mit Greta und Gunther verbracht und Greta hat uns damals freudestrahlend erzählt, dass ihr nur noch 200 Punkte fehlen.
200 Punkte, nahm Greta den Faden auf, für eine Küche von DAN. Sie wissen sicher, was so eine Küche wert ist? Die Frage war an den Gast gerichtet, dem es zunehmend schwerfiel, sein Staunen zu verbergen.
Ja, und um dieses Ziel zu erreichen, schlugen wir ihr einen Deal vor. Stimmt’s, Walter? spielte Gunther den Ball an den Professor zurück.
Der nahm ihn auf, versuchte aber das Ende der Geschichte noch ein bisschen hinauszuzögern, um die Spannung zu steigern.
Wir sind mit dem Schlepplift den Hang hinauf. Die Piste war am Vortag beschneit worden. Links und rechts der Piste alles noch oder wieder grün, weil schon länger kein Schnee gefallen war, begann der Professor.
Greta das erste Mal auf Skiern. Die hat sie sich zu Weihnachten gewünscht, übernahm Gunther, damit die Geschichte Fahrt aufnahm. Wie Sie sehen, müssen sich unsere Frauen nicht alles erst verdienen, sie werden auch großzügig beschenkt.
Während der Gast noch überlegte, wie er – das Florett gegen den Degen tauschend – diesem Einwand begegnen soll – etwa, indem er ihn fragt, ob er denn glaube, dass die Frauen in der Zwischenzeit mit dem Wahlrecht oder dem Recht auf Abtreibung beschenkt worden seien, fuhr der Professor fort:
Was Greta nicht klar war und ihr erst bewusst worden ist, als sie oben angekommen war…
…dass sie auch wieder hinunter muss…, sagten beide beinahe lippensynchron und prusteten schenkelklopfend los.
Der Frau des Professors war nicht entgangen, dass es dem Gast sichtlich schwerfiel, in das Lachen miteinstimmen zu können, und fragte ihn, – vielleicht, weil sie den Ausgang der Geschichte schon kannte, oder aber, ihm noch mehr Peinlichkeit zu ersparen -, ob er Machu Picchu oder den Titicacasee gesehen hätte. Es sei schon immer ihr Traum gewesen zu reisen. Das aber sei nicht gegangen, weil es zuerst das Haus gewesen sei, dessen Bau finanziert und dann beaufsichtigt hat werden müssen; und jetzt im Ruhestand wolle der Professor keine größeren Reisen mehr unternehmen, da es mit zu viel Risiko und Gefahr verbunden sei.
Walter und das mit ihm befreundete Ehepaar starrten die Frau des Professors entgeistert an. Ist dir entgangen, sagte der Professor scharf, dass wir mitten im Erzählen waren? Karl will doch sicher wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist, oder Karl?
Ohne seine Antwort abzuwarten, bat er Greta, die Geschichte zu Ende zu erzählen.
Da oben am Berg war mir das Lachen vergangen, begann Greta, froh, dem Gast ihre Version der Geschichte zu schildern: Ich stand da oben und schaute hinunter. Wie um Himmelswillen soll ich da hinunter? Ich hab nicht einmal gewusst, wie man einen Stemmbogen fährt.
Da haben wir ihr einen Deal vorgeschlagen, stimmt’s Gunther? unterbrach sie der Professor.
Weiß auch nicht, wem von uns beiden das eingefallen war, aber ich nehme an, dir, meinte Gunther.
Nein: Diesmal warst es du, lieber Gunther. Es war ja auch deine Greta, die eine Küche wollte, entgegnete der Professor.
Nicht irgendeine, mischte sich Greta ein. Eine DAN.
Ja, genau. Eine DAN. Wie viel Punkte haben dir noch einmal für die Küche gefehlt? fragte sie ihr Mann. Auch er ein Meister der Dramaturgie.
Wenn du da hinunterfährst, hat er zu mir gesagt, ließ sich Greta nun nicht mehr unterbrechen, schlägt er noch Transport und Montage drauf. Für die hätte ich sicher noch einmal 1000 Punkte sammeln müssen. Da wär‘ ich ja schön dumm, hab ich mir gedacht, wenn ich dieses Angebot nicht annehme, und hab mich hinuntergestürzt.
Hinuntergestürzt ist der richtige Ausdruck. Du wusstest ja nicht einmal, wie man bremst, lachte Gunther. Wieder prusteten die beiden Männer los.
Also, ich muss schon sagen, ich hab deinen Mut bewundert, Greta. Ich hätte mich das nie getraut. Weder für eine Küche, noch für ein ganzes Haus nicht, sagte die Frau des Professors.
Ja, an der Greta könntest du dir ein Beispiel nehmen, warf der Professor ein. Bist halt und bleibst ein Angsthäschen, meine Liebe. Und übrigens: Wären wir durch die Welt gereist, wie Karl, hätten wir heut kein Haus und müssten heut zur Miete wohnen. Und außerdem bist du es, die nicht fortwill. Schon vergessen?
Damit der Streit nicht eskaliert, fragte Karl: Wie ist die Geschichte nun ausgegangen? Oder war sie das schon?
Wie sie ausgegangen ist? Wie’s Hornberger Schießen. Aber die Küche hab ich mir wirklich verdient gehabt. Bin dann mit zwei gebrochenen Haxen im Spital gelegen und noch Monate auf Krücken gegangen. War nicht lustig. Aber wie ich heimgekommen bin, war die Küche eingebaut. Fix und fertig.
Auf dem Heimweg – er wusste noch immer nicht, wo und wann er mit Walter Bekanntschaft gemacht hatte – wusste er wieder, warum er sein Heimatdorf verlassen hatte.
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