„…
Am Anfang ging noch alles glatt. Ich hatte zwar durch die Taufe der Flasche mein Gehör eingebüßt, war aber dann damit zufrieden, dass der Behälter nicht gleich auf den Grund gesunken ist. Meine Flasche wurde bald von einer anderen Strömung erfasst und tanzte auf ihren Wirbeln, doch ich wusste, dass Flaschenpost etwa einen halben Erdentag für nur eine Drehung braucht. Einige scheren nach Süden aus, andere nach Osten. Viele Flaschen enden in einem Strudel mitten im Meer. Nie noch war eine so überdimensional große Flasche in diesen Gewässern unterwegs gewesen. Ich kann sie nicht steuern, nur hoffen, dass sie in der Strömung bleibt. Dies aber ist leider nicht der Fall. Ich hatte mich auf ein Drittel silurischer Zeit eingerichtet, eine Zeit, die nur einmal überboten worden war, dann aber steckte ich über den Zeitraum von 6 Blutmonden, in denen es unaufhörlich geregnet hatte, im Mündungsdelta eines mir unbekannten Stromes fest. Ich konnte nur hoffen, dass der in der Zwischenzeit angestiegene Meeresspiegel eine Strömung erzeugt, die mein Behältnis – bald hätte ich Schiff gesagt – wieder freisetzt…“
Leider, unterbricht Dr. Terence Vergil die Lesung, wir erfahren so gut wie nichts über Noah’s Herkunft, und wie es dazu kam, dass er sich allein auf diese gefahrvolle Reise gemacht hat. Eigentlich muss Noah gewusst haben, dass nur wenig Hoffnung bestand, die Reise zu überleben. Gut: Das hat noch keinen wirklichen Abenteurer aufgehalten. Sterblichkeit gehörte außerdem zur Voraussetzung von Leben auf Gaia. Wie sich das angefühlt haben muss, darüber ist uns nichts überliefert, oder es ist – wie so Vieles auf diesem Planeten – verloren gegangen. Aber was war Noah’s Antrieb? Konnte er sich mit seinen Zeitgenossen über seine Grenzerfahrungen austauschen? Noch immer gibt der Behälter, welchem sich Noah anvertraut hat, unseren Forschern Rätsel auf. Jedenfalls hat uns der Fund in grenzenloses Staunen über die Fortschritte versetzt, die diese Zivilisation gemacht hat, bevor sie untergegangen war. So ergaben Proben, dass sein sprach- und schriftfähiger Bewohner in einem Wasser überlebt hat, das als hibernatisches oder kryostatisches Wasser identifiziert worden ist; eine Lauge also, dem Fruchtwasser nicht unähnlich, das für Schwerelosigkeit sorgte und Noah auch als Nahrungsquelle gedient haben muss.
Es wird noch etliche Umdrehungen von Proxima-Centauri dauern, bis der sensationelle Fund seine letzten Geheimnisse preisgegeben hat. Noah hat fest daran geglaubt, dass seine Botschaft einst entschlüsselt würde. Auch das entnehme ich seinen Aufzeichnungen, die sich wie das Vermächtnis einer Zeitepoche liest. Das in der Sprache der untergangenen Spezies abgefasste Dokument, von dem leider nur Bruchstücke rekonstruiert und erhalten werden konnten, lässt zumindest diesen Schluss zu.
Dr. Vergil beugt sich über die von ihm in aufwendiger Arbeit geretteten Fragmente und zitiert:
„…Eben wurde die Flasche von etwas angegriffen, das mich – aus der Nacht der Zeiten kommend – zuerst ausdruckslos angestiert hat, dann den Rachen mit scharfen, in drei Reihen gestaffelten Zähnen aufriss und mich samt Flasche verschlang. Ich habe schon viel erlebt, auch Schreckliches. Aber nichts war mit der Panik vergleichbar, von der ich nun erfasst wurde. Sicher war sie auch der absoluten Dunkelheit geschuldet. Nachdem es mir aber gelungen war, meinen Herzschlag mit dem des Monsters zu synchronisieren, in dessen Eingeweide ich geraten war, beruhigte ich mich; und kaum hatte ich mich beruhigt, hatte mich dieses Ungeheuer auch schon wieder ausgespien. Nachdem ich aber festgestellt hatte, warum es seine Beute freigegeben hat, überkam mich ein seltsamer Gleichmut: Eine Gleichgültigkeit, wie sie nur diejenigen erfahren, die nicht mehr angreifen und auch nicht mehr fliehen können. In rasender Geschwindigkeit rotierte der Behälter in immer kleiner werdenden Kreisbewegungen am Rand eines tosenden Mahlstroms. Dem Tod entkommen, hatte ich ihn schon wieder vor Augen…“
Der Vortragende nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen, setzt sie wieder auf:
Sein Abenteuer, das dieses geschlechtlose ICH auf seiner Reise mit der Flasche sich selbst als Botschaft anvertraut hatte, ist ein großartiges Beispiel von Straucheln und sich Wiederaufrichten, und diese Bewegungsabfolge, die wir aus heutiger Sicht als ein Scheitern sehen, das niemals aufgibt, ist und war Inbegriff des Heldischen.
Vielleicht fragen sie sich, wo und unter welchen Umständen die Zeitkapsel gefunden worden ist. Nun: Leider kann ich neben meiner Übersetzungsleistung nicht auch noch den Fund für mich in Anspruch nehmen. Diese Ehre gebührt einem meiner Reisebegleiter, Dr. Adam. Auswirkungen ionisierender Strahlung auf biologische Systeme sind sein Spezialgebiet. Auch der Bodenbeschaffenheit von Gaia galt sein Interesse. Oft war er tagelang allein unterwegs. Bei einer seiner Unternehmungen fand er sie. Den Fundort beschreibt er als eine tafelartige Ebene aus schwarzem Basalt, eingesäumt von einem Feuerring aus Vulkankegeln, die sich wie Schornsteine aus der Landschaft erhoben. Zwischen Muscheln und Schlick, eingekeilt zwischen zwei Felsbrocken, Findlinge einer Endmoräne, ragte der Hals der mannsgroßen Flasche aus dem schwarzen Sand. Sie war mit einem Pfropfen luft- und wasserdicht verschlossen, und hatte nicht nur unvorstellbarem Druck standgehalten, sondern selbst in Perioden infernalischer Hitze oder Kälte keinen Schaden genommen. In meinem Buch, das im Anschluss des Vortrages auch käuflich zu erwerben ist, beschreibt Dr. Adam den Augenblick seines Fundes so:
Nach einer ersten Sichtung durch einen luftunterstützen Laserscan hab‘ ich gedacht, es ist mal wieder Müll, wie er auf Gaia leider oft anzutreffen ist. Als ich aber sah, dass es eine Flasche war, so groß, dass ich in ihr Platz nehmen hätte können, – ich habe sie mit bloßen Händen ausgegraben -, wusste ich, dass ich einen unglaublichen Fund gemacht hatte. Ich war so aufgeregt, dass ich beinahe auf die Flut vergessen habe, die sie wieder weggespült hätte. Ich bin zu meinem Boot gelaufen, habe ein Ruder geholt, es wie einen Hebel angesetzt und so die Flasche über den Sand dorthin gerollt, wo die Flut nicht mehr hinkommt. Dann habe ich meinen Begleiter, Dr. Terence Vergil verständigt. Es hat nicht viel gefehlt und wir hätten sie mit Steinen zertrümmert, um an ihren Inhalt, an den Schatz zu kommen, den wir drinnen vermutet haben.
Ja, manchmal kommt der Sorgfaltspflicht des Archäologen die Ungeduld in die Quere. Es erfordert große Beherrschung, zuerst alles zu vermessen und zu kartografieren, bevor mit der Ausgrabung begonnen werden kann. Wir haben die Sorgfaltspflicht nicht verletzt und alles gut dokumentiert. Übrigens ergab die C14 Datierung, dass der Fund in der gaiachronologischen Epoche des Anthropozäns anzusiedeln ist: nämlich des Zeitalters, in dem die Bewohner Gaia‘s zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf Gaia geworden sind; eines Prozesses, wie wir heute wissen, der den Untergang seiner Spezies eingeleitet hat.
Aber nun zur für mich interessantesten Stelle des Textes. Aus dieser geht eindeutig hervor, dass er sich selbst und das Logbuch als Flaschenpost verstanden hat, von der er hoffte, einen weiten Pass in die undefinierten Räume einer Zukunft zu schlagen, in welcher er entziffert und gelesen würde:„Alles ist Botschaft: Das Medium, das mich transportiert und das Ich, das in meinem Logbuch überleben wird. Es ist nicht so, dass uns der Klimakollaps überrascht hat. Seit Jahrzehnten hatten Experten davor gewarnt. Die einen meinten, es sei ohnehin schon zu spät, die andren, dass uns eine noch zu entwickelnde Technik retten würde. Die einen haben begonnen, wieder wie die Jäger und Sammler in der Steinzeit zu leben, die anderen – eine kleine, aber mächtige Minderheit, von der wir abstammen – sucht Heil und Rettung in der Raumfahrt… Ich bin zuversichtig. Wir dürfen die Erde nicht aufgeben. Es gibt keinen Planeten mit ähnlicher Zusammensetzung in den Weiten des Alls. Vielleicht eine Parallelwelt, aber das ist Spekulation…“
Ist das nicht prophetisch? wendet sich Dr.Terence Vergil an das Publikum. Beinahe tausend Jahre später befassen wir uns mit ähnlichen Fragestellungen, nur mit dem Unterschied, dass die Existenz einer Paralellwelt ebenso bewiesen ist, wie die Tatsache, dass es weder einen Anfang noch ein Ende der Zeit gibt, weil das Universum dem gleichen Kreislauf von Sterben und Geborenwerden unterworfen ist, wie alles: Leblose Materie und lebendige Organismen.
Ich bin nun zum Ende meiner Ausführungen gelangt. Im Anschluss meines Vortrages können sie nicht nur ein von mir signiertes Buch erwerben, sondern darüber hinaus auch ein dem Original abgebildetes Fläschchen mit dem Inhalt der Flüssigkeit kaufen, mit der Noah sich hibernatisch oder kryostatisch so lange am Leben erhalten hat. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.
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