Tim im Hundertmorgenwald

I

Soll ich dir die Geschichte vom Hundertmorgenwald erzählen? fragte seine Oma.

Ja, bitte, bettelte Tim, wie jeden Abend vor dem Schlafengehen. Und wie jeden Abend legte sie dann die Fingerbeere ihres Daumens auf die Stelle der Stirn zwischen seinen Augen, dorthin, wo die Nase ihre Wurzel hat, murmelte etwas in einer Sprache, die er nicht verstand, und begann: Im Hundertmorgenwald, musst du wissen, sind hundert Jahre wie ein Tag…

Kaum aber hatte sie ihn berührt, fiel er jedes Mal in einen steinschweren, abgrundtiefen Schlaf, und nichts, aber auch gar nichts erinnerte ihn am nächsten Morgen an das Versprechen, das sie ihm auch an diesem Abend wieder geben, aber wieder nicht einlösen würde. Denn das eben war das Geheimnis des Hundertmorgen-waldes, dass, wer einmal seinen Fuß in ihn gesetzt hat, nicht weiß, wie er in ihn hineingekommen, noch wie er ihn wieder verlassen hat; nicht einmal, ob es ihn überhaupt gegeben hat. Es war ein Zauberwort.

II

Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen rieb sich Tim den Schlaf aus den Augen. Aus der Küche hörte er seine Großmutter mit Tellern und Tassen hantieren und – wie es ihre Gewohnheit geworden war -, mit sich selbst sprechen. Es war ein melodischer Singsang einer ihm fremden Sprache. Sie war von weit her aus einem kleinen Dorf gekommen, das, je länger es zurück lag, dass sie von dort aufgebrochen ist, in ihren Schilderungen immer mehr zu einem Ort geworden ist, den es nur in Märchen geben kann. Nicht, dass Tim ihr nicht glauben wollte; schon der leiseste Zweifel an dem, was sie ihm erzählte, hatte Folgen, die er nicht heraufbeschwören wollte.

Du glaubst mir also nicht? sagte sie dann. Du glaubst also, ich lüge? Du glaubst also nicht, dass ich das Läuten einer Glocke hören kann, obwohl sie nicht mehr im Turmgestühl einer Kirche hängt, weil sie im Krieg zerstört worden und nicht mehr wieder aufgebaut worden ist?

Ich habe doch gar nichts gesagt, will Tim sich wehren, aber es war schon zu spät.

Es ist mir gleich, ob du mir glaubst oder nicht. Dann erzähle ich dir einfach nichts mehr. Von mir wirst du keine Geschichte mehr hören; da kannst du betteln, solange du willst.

Wenn sie so anfing, wusste er, dass es Tage dauern konnte, bis sie wieder bereit war, ihm seine vermeintlichen Zweifel zu verzeihen; Tage, in denen er ihr mit Bitten und Betteln in den Ohren liegen würde.

Manchmal aber, wenn er etwas unbedingt glauben wollte, obwohl es einfach zu schön war, um wahr zu sein, oder er es nicht und nicht glauben wollte, weil nur sein kann, was er sich vorstellen konnte, sagte sie: Du musst nicht alles glauben, was ich dir sage, aber ich sage dir, es war so. Das verwirrte ihn noch mehr.

Wenn du groß bist, fahren wir in meine Heimat. Dann kann man vielleicht wieder über die Grenze, und dann kannst auch du die Glocke hören. Das ist mein letzter, großer Wunsch, bevor ich sterbe.
Besuchen wir dann auch deinen Hundertmorgenwald?

Natürlich Tim. Was wohl aus ihm geworden ist? seufzte sie.

Ich will nicht, dass du stirbst, sagte Tim, und fiel ihr um den Hals und drückte sie so fest, dass sie sich von ihm befreien musste.

Warum muss man sterben?

Das ist eine dumme Frage. Alle müssen wir einmal sterben. Es ist etwas, womit jeder bezahlen muss, dafür, dass er da gewesen ist. Es ist eine offene Rechnung, die man begleichen muss für das Wunder, das mit jeder Geburt von Neuem beginnt. Es ist eine offene Rechnung und jeder muss sie bezahlen. Jeder.

Und wenn ich nicht will? bohrte Tim weiter.

Was nicht willst?

Bezahlen, die offene Rechnung begleichen, sterben, tot sein? Was, wenn ich das nicht will?

Du musst nicht so brüllen, ich verstehe dich gut. Ich bin noch nicht taub. Ich weiß, was du meinst. Niemand will das, solange man gesund ist und keine unerträglichen Schmerzen hat oder in eine Lage geraten ist, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

Aber jetzt musst du aufstehen. Das Frühstück ist fertig und ich muss noch eine Menge tun heute.

Tim aber war noch lange nicht zufrieden mit den Antworten. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass es einmal seine Oma nicht mehr geben könnte.

Wo kommt man hin, wenn man tot ist, Oma?

Die einen sagen, dass man in den Himmel kommt, wenn man ein anständiges Leben geführt hat oder in die Hölle, wenn man bös war. Ich glaube aber nicht an Himmel und Hölle. Dabei fuhr sie ihm wie abwesend durch seine wuscheligen und noch ungekämmten Haare und machte eine lange Pause.

Was glaubst du, Oma? bestürmte er sie.

Ich glaube, dass wir uns alle im Hundertmorgenwald wieder sehen werden. Jetzt aber Schluss mit den trüben Gedanken. Raus aus dem Bett!

III

Willst du wissen, wie der Hundertmorgenwald zu seinem Namen gekommen ist? Das war so, sagte sie, indem sie ihn zudeckte: Weißt du, dort, wo ich aufgewachsen bin, hat der Bauer im Frühling seine Pferde eingespannt, und mit ihnen seinen Acker für die erste Aussaat gepflügt. Und was die Pferde an einem Morgen gepflügt haben, das war das Maß, mit dem man die Länge und Breite von Grundstücken gemessen hat. Dieses Maß hat man Morgen genannt, und es hat nicht nur für Wiesen oder Äcker gegolten, sondern auch für den Wald. Mein Wald war hundert Morgen groß. Jetzt kannst du dir ungefähr vorstellen, wie groß der war, und er hat mir gehört. Mir ganz allein. Es war mein Hundertmorgenwald. Weißt du, wie schön der war?

Dann hat er also gar nichts mit der Zeit zu tun? fragte Tim?

Doch auch mit der Zeit, sagte die Großmutter. Aber für die Zeit gibt es kein Maß. Man versucht es zwar mit der Uhr und teilt noch die Sekunden in Hundertstel und Tausendstel oder rechnet sogar in Lichtjahren, aber in Wirklichkeit kann sie nicht gemessen werden, und hundert ist nur eine Zahl und Zahlen gibt es so viele, wie es Sterne gibt. Und Sterne gibt es wie Sand am Meer. Die können gar nicht gezählt werden. Genauso viele vielleicht, wie es Morgen gibt und es gestern schon gegeben hat. Alles hat einen Anfang und ein Ende. Die Erde, der Mond, die Sterne, ich, du…

Dann gibt es unendlich und ewig gar nicht? fragte Tim.

Die Zeit vergeht und dauert, beides gleichzeitig. Ein Reigen ist es aus Welken und Blühen, aus Geborenwerden und Sterben.

Du aber nicht, Inge nicht und ich auch nicht, protestierte Tim. Aber mein Dummerchen, auch wir. Aber du und Inge noch lange, lange viele tausend Morgen nicht. Dabei strich sie ihm übers Haar und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.

IV

Er hatte kaum die Augen zugemacht, war er auf einer Sommerwiese mit würzig duftenden Wildblumen, die ihn mit ihren hellen Stimmen schon von Weitem begrüßten. Hallo Tim, riefen sie, so früh schon unterwegs? Wohin willst du denn?

Ich hab‘ was vergessen, sagte er, und weiß nicht mehr was. Könnt ihr mir helfen?

Er hat was vergessen und weiß nicht mehr was, echote die Schlüsselblume und gab es wie die stille Post an ihre Nachbarin, die Wiesenglockenblume weiter. Diese an den Lerchensporn und der an den Löwenzahn und dieser an die Wilde Möhre und so weiter, bis die ganze bunte Wiese ein einziges Geflüster war. Gleichzeitig fingen die vielen Glockenblumen, Klappertöpfchen und Zimbelkräuter an, ihr Orchester zu stimmen, als wäre schon wieder Ostern, so laut, dass sich Tim die Ohren zuhalten musste, und ohne es zu wollen, zu schreien begann: Aufhören! Aufhören! Das schien zu wirken, denn kurz darauf war nur noch das Summen einer Biene zu hören, die von ihrem Volk als Kundschafterin ausgeschickt worden war, und eben aus den scharlachroten Kronblättern eines Klatschmohns kroch und brummte: Vergiss es!

Was soll ich vergessen, fragte Tim?

Was du vergessen hast, was sonst? summte sie ihm ins Ohr. Komm mit! forderte sie ihn auf. Wolltest du nicht in den Hundertmorgen-wald?

Und so geschah es, dass sich Tim plötzlich auf einer Lichtung wiederfand, die ringsum mit blauschwarzen Tannen umsäumt war. Dort, wo ein Weg wieder in den Wald hineinführte, stand ein Häuschen, auf dessen Dach ein Wetterhahn in einem fort krähte, als würde ihm jemand die Gurgel zudrehen: Komm herein, tritt ein. Bring Glück herein. Entdecke das, was ist dein Sein!

Die Tür stand sperrangelweit offen und Tim kam dieser freundlichen Aufforderung nach, weil er von Natur aus neugierig war. Drinnen herrschte das reinste Chaos. Die Fenster waren zerbrochen. Auf dem Dielenboden lagen Glasscherben und umgestürzte Kästen, Tische und Stühle. Es sah nach einem Einbruch aus, der erst vor kurzem statt-gefunden haben musste, weil es noch Essensreste gab, die nicht verschimmelt oder vertrocknet waren. Es roch nach …, ja, wonach roch es hier? Nach Angst stellte Tim fest, und wollte schon den Weg ins Freie suchen, als er eine dünne Stimme hörte, die aus der Wand zu kommen schien. Bist du es, Tim? fragte sie. Ich hab‘ auf dich gewartet. Gut, dass du gekommen bist. Du musst mir helfen, ja?

Tim sah sich nach der Stimme um, konnte aber ihren Ursprung nicht entdecken. Sie kam von der Wand, aber da hing nur ein Uhrenkasten.

Ja, ganz richtig. Ich bin hier drinnen. Ich habe mich selbst eingesperrt, sagte das Stimmchen wieder. Du kannst mich nicht sehen. Ich bin das Siebte von dem, was von den Tagen einer Woche noch da ist. Alle anderen gibt es nicht. Ich bin Jetzt und das ist keine Zeit, verstehst du?

Aber heute ist doch Sonntag. Das weiß ich, weil am Sonntag keine Schule ist.

Ja, heute ist Sonntag. Aber Sonntag, das ist alle Zeit, verstehst du?

Und was soll ich jetzt tun? fragte Tim.

Du darfst mein Versteck nicht verraten. Das muss unter uns bleiben, Tim, schwörst du mir das?

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Aber ich will dich sehen, willst du dich mir nicht zeigen?

Nein. Niemand darf mich sehen. Auch du nicht. Gleich wirst du aufwachen und nichts mehr von deinem Traum wissen. Du kannst mir nur helfen, indem du vergisst, was du vergessen hast. So, und jetzt mach, dass du nach Hause kommst, Tim. Die Zeit ist um.

Kaum hatte das Stimmchen das gesagt, läutete sein Wecker. Schlaftrunken wachte er auf, suchte blind seinen Wecker und stellte ihn ab. Draußen regnete es nicht mehr. Es war Frühling und die Sonne schien durchs Fenster. Seine Oma kam ins Zimmer und fragte wie jeden Morgen: Habt ihr gut geschlafen? Sie sprach immer so mit ihm, denn so ist das, wenn man aus einer anderen Zeit kommt.

Oma, jetzt ist Sonntag? Das stimmt doch, oder? fragte Tim.

Sonntag ist heute, mein Schatz. Ganz richtig. Und schönes Wetter noch dazu; gehen wir zuerst in den Prater und dann in den Wienerwald. Was hältst du davon?

Sonntag, das ist alle Zeit, sagte Tim nachdenklich.

Was soll das denn nun wieder heißen? fragte seine Großmutter.

Tim versuchte sich zu erinnern. Aber es half alles nichts. Der Traum war schneller weg, als er Gutenmorgen sagen konnte.

VI

Tim war nicht traurig, dass aus dem Vorhaben, in den Prater zu gehen, nichts geworden ist. Er liebte den Regen, wenn er an die Fensterscheiben trommelte, den Wind, wenn er in die Blätter der Pappel fuhr, – ja, sogar den Frost, wenn er die Scheiben mit Sternen aus Kristall beschlug, in die er mit seinem Atem kreisrunde Löcher brennen konnte; in Wirklichkeit liebte er jedes Wetter, das ihn nicht ins Freie lockte, weil es daheim so gemütlich war.

Aber du musst mir eine Geschichte erzählen, forderte er. Aber keine vom Hundertmorgenwald, fügte er hinzu. Die kenne ich schon.

Nicht eine kennst du, brummte seine Großmutter, aber das sagte sie mehr zu sich selbst.

Sie nahm die Stricknadeln aus dem Korb und schlug die Maschen an, indem sie den Arbeitsfaden aufnahm und die Wolle für seine Strickmütze zwei Mal um den Zeigefinger wickelte.

Weißt du, fing sie an, dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es einen Fluss, der unser Dorf regelrecht in zwei Hälften geteilt hat. Viele Stege und Brücken haben von einem Ufer zum andern geführt, sodass er für uns kein Hindernis war, wenn wir auf die andere Seite wollten. Stundenlang konnte ich unter den bis in das Wasser hineinragenden Zweigen der Erlen und Weiden sitzen, dem

Glucksen und Gurgeln zuhören und zuschauen, wie mich meine aus Träumen gebauten Schiffe fortrissen, dem Meer und noch von niemandem entdeckten Kontinenten zu.

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Aber Oma, unterbrach sie Tim, warum wolltest du denn fort aus deinem Dorf? Immer wenn du mir von ihm erzählst, möchte ich auch dort sein und nie mir wünschen, dass ich fortgehen muss.

Die Großmutter legte kurz ihre Stricknadeln in ihren Schoß und seufzte: Aber Tim, du weißt genauso gut wie ich, dass nichts bleibt, wie es ist. Das hab ich mir doch nicht gewünscht. Warum hätten wir uns wünschen sollen, unsere Heimat zu verlassen? Das macht niemand gern. Niemand ist gern auf der Flucht.

Als würde sie von ihren Erinnerungen mitgespült werden, schaute die Großmutter in eine Tim unbekannte Ferne und schwieg.

Tim spürte, dass er an eine Wunde gerührt hatte, und zupfte zaghaft an ihrer Strickjacke; er wollte sie daran erinnern, dass sie jetzt in der Gegenwart daheim und er da war.

VII

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Tim kuschelte sich unter die Decke. Draußen regnete es noch immer. Er sah seiner Großmutter zu, wie sie den roten Faden von der Wolle spulte, um ihm wieder eine Mütze zu stricken. So viele Winter gibt es gar nicht, dachte er, wie sie Handschuhe, Socken und Mützen strickt. Dass sie einmal nichts tut, würde ihr nie in den Sinn kommen. Nie noch habe ich gesehen, dass sie ruht, außer, wenn sie schläft. Aber selbst dazu, sich in ein Bett zu legen, schien sie keine Zeit zu haben. Immer brannte das Licht in der Küche, und wenn Tim aufs Klo musste oder mitten in der Nacht aufwachte, fand er sie oft eingeschlafen mit dem Kopf in der linken Armbeuge und die rechte Hand am Griff des Rades, mit dem sie ihre alte Nähmaschine in Betrieb gesetzt hatte.

Wenn er die Tür zur Küche wieder schließen wollte, schrak sie hoch und schalt ihn, sie nicht geweckt zu haben. Muss noch sooo viel tun. Muss noch sooo viel tun. Gut, dass du mich aufgeweckt hast. Kaum hatte sie das gesagt, konnte es schon vorkommen, dass sie wieder einschlief.

Jetzt aber erzählte sie, wie es in ihrer Heimat zum Krieg gekommen war, der auch ihr Dorf nicht verschont hatte:

Stell dir vor, die Kirche, deren Glocke ich noch immer hören kann, wurde ebenso wie viele Häuser und Höfe ein Opfer der Flammen; der Fluss über Nacht zur Grenze zwischen zwei Lagern, die sich als Todfeinde gegenüberstanden. Die eine Hälfte nannten sie Westen, die andere Osten, die meisten Brücken wurden gesprengt. Familien wurden auseinandergerissen: Väter und Mütter von ihren Kindern, Männer von ihren Frauen; es gab kein Zurück mehr… Mein Hundertmorgenwald war auf der anderen Seite. Verstehst du? Auf der anderen Seite. So ist aus dem Fluss eine Grenze geworden. Eine Grenze zwischen Osten und Westen, zwischen Gestern und Heute.

Das letzte Bild, das sie in sich aufgenommen, in die neue Heimat und bis in ihr hohes Alter gerettet hatte, und immer abrufbar geblieben war, sei der von den Flammen nachthell erleuchtete Himmel über dem Wald gewesen; und das letzte, was sie gehört hätte, das wilde Läuten der Glocke, bis auch diese verstummt war, nachdem sie mit einem dumpfen Knall, der sogar den Geschützdonner übertönt hatte, aus dem brennenden Dachstuhl in die Tiefe gefallen sei.

Alles habe ich dort zurückgelassen, und von einer Nacht zum nächsten Morgen war ich kein Kind mehr. Aber das ist vergangen und vergessen und vorbei. Dass nur nie wieder ein Krieg ist, schloss sie und seufzte ein schweres Ach ja.

Tim kannte diese Geschichte so gut, als wäre er selbst dabei gewesen. Er hörte den vom Wind gepeitschten Regen auf die Scheiben trommeln, das Klappern der Stricknadeln, und ihm war, als würde er zum ersten Mal auch die Glocke hören, denn er war von einem Wachtraum in tiefen Schlaf gefallen.

VIII

Was willst du? fragte ihn die Spinne.

Ich will über den Fluss, antwortete Tim. Ich muss in den Hundertmorgenwald. Der beginnt am anderen Ufer, hat man mir gesagt.

Wer hat dir das gesagt? wollte die Spinne wissen, und außerdem: warum glaubst du, dass ich das könnte, dich auf die andere Seite bringen?

Alle hier sagen das.

So so, sagen sie das. Ich fühle mich geschmeichelt. Wie viel wiegst du denn? fragte sie Tim.

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Ich bin ein Fliegengewicht, antwortete Tim, und erschrak, weil er im gleichen Augenblick erkannt hatte, dass es dumm war, sich mit einer Fliege zu vergleichen, wusste er doch, dass es der Spinnen liebstes Beutetier war. Aber es war schon zu spät.

So schwer wie eine Fliege also bist du. Das ist gut. Das ist sogar mehr als gut, sprach sie jetzt mehr zu sich selbst. Ich wollte ohnehin gerade einen Faden auswerfen. Muss nur noch auf günstigen Wind warten. Wenn das Ende irgendwo hängenbleibt, kann ich auf dieser Brücke zur anderen Seite krabbeln. Muss aber erst den Faden so oft verstärken, dass er dein Gewicht trägt.

So lange und ausführlich hatte sie noch selten gesprochen. Es geschah, weil sie sich Hoffnung auf fette Beute machte. Tim aber war gewarnt.

Klebt der Faden? fragte er, als wäre er nur neugierig.

Nein, erst ganz zum Schluss bringe ich die klebrigen Fäden an, verriet sie ihm ihr letztes Geheimnis, und Tim dachte insgeheim:

Dann kann ich es ja wagen und mich vorher abseilen.

Das Einzige, was ihm Sorge bereitete, war, wie er auf der dünnen Fadenbrücke gehen sollte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Feststand, dass er nicht hinunterschauen und es ihm schwindelig werden durfte.

IX

He he, donnerte eine Stimme von so hoch oben, als würde sie aus den Wolken kommen, du willst also auf die andere Seite. Das ist aber keine gute Idee, dir von der Spinne eine Brücke bauen zu lassen.

Tim drehte sich um und sah zwei rindennackte, aber behaarte Stämme vor sich aufragen, die zu einem Riesen gehörten. Sie steckten in abgetragenen Stiefeln, von denen einer vorne wie ein Maul aufklaffte und die knolligen Zehen mit erdschwarzem Zehennagelrand der würzigen Luft des Waldes preisgab.

Aber mutig bist du. Das muss ich dir lassen. Hab‘ schon viel von dir gehört, aber deinen Namen vergessen. Wie heißt du denn?

Daraufhin bückte er sich, und Tim hörte seine Knochen krachen, als würde gerade eine Eiche gefällt. Mit seinen behaarten Pranken suchte er den Boden nach ihm ab und als er ihn gefunden hatte, zog er ihn an einer Hand hoch und beschnupperte ihn mit seiner hässlichen Rübennase und schnaufte wie eine Diesellock, wenn sie den Berg hinauffahren muss; sein Mund war ein rotes Loch mit nur zwei Zähnen, die jeden Augenblick herauszufallen drohten, und aus den Poren seiner ungesunden Haut sprossen Haare, die es zu keinem Bart brachten. Was Tim aber ein bisschen seine Angst nahm, das waren seine Augen. Sie glichen einem milchigen Bergsee, in den der Mond gefallen war.

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Ja, du siehst richtig: Ich bin blind, polterte der Riese und das Echo seiner Stimme schlug sich drei Mal an den rabenschwarzen Felsen auf der anderen Uferseite. Blind. Blind. Blind. Das war schaurig anzuhören, und ihm war, als würde der ganze Wald den Atem anhalten.

Lass mich runter! bat Tim. Du reißt mir ja den Arm aus.

He he, meinte der Riese, und legte ihn behutsam in die tellergroße Schale seiner linken Hand. Da wusste Tim, dass es ein gutmütiger Riese war, und bekam Mitleid mit ihm.

Warum bist du blind? fragte er ihn.

Oh, das ist eine lange Geschichte. Weißt du, mir hat einer, der sich Niemand nannte, die Augen ausgestochen. Seither vertraue ich den Menschen nicht mehr und jeder, der in meinen Wald kommt, muss fürchten, dass ich ihn wieder hinausjage oder Schlimmeres.

Niemand hat dich also blind gemacht? fragte Tim. Aber wenn niemand dir die Augen ausgestochen hat, warum siehst du dann nichts mehr? Niemand gibt es nicht. So heißt niemand.

Was? Du glaubst mir nicht?

Fast hätte er ihn zerquetscht. Wenn er wütend wurde, das wusste Tim jetzt, war mit ihm nicht zu spaßen, auch wenn er schon alt war und nur noch zwei faule Zahnstummel hatte.

Ich glaube dir ja, schrie Tim. Ich glaube dir. Niemand hat dich blind gemacht.

Da ließ der Riese von ihm ab und wurde wieder friedlich.
Was willst du eigentlich da drüben? fragte er Tim. Das ist ein gefährlicher Ort. Man weiß nie, ob man von dort wieder zurückkommt. Hast du dir das auch gut überlegt?

Das stimmt nicht, sagte Tim empört. Der Hundertmorgenwald ist der schönste Ort der Welt.

Erzähl! Erzähl! bat ihn der Riese, ganz neugierig geworden. Wie ist es da drüben in deinem Hundertmorgenwald. Was für ein schöner Name für einen Wald. Bitte, beschreib ihn mir!

Im Hundertmorgenwald, begann Tim, nachdem der Riese einen Platz zum Sitzen gefunden hatte, ist immer die Jahreszeit, die du dir wünschst. Alles dort wuchert und wächst wild. Kein Mensch rührt ihn an. Dort gibt es Farne so groß, dass selbst du unter ihnen Schatten finden könntest. Die Baumstämme liegen dort herum wie Mikado-stäbe. Es riecht nach Wacholder, und nichts ist dort giftig. Nicht einmal der Fliegenpilz. Und wenn es dort ein Haus gibt, hat es eine Schuppenhaut aus Schindeln und an der Wand hängt ein Uhrenkasten und in ihm drinnen wohnt Sonntag…

Danke, sagte der Riese, das hast du schön gesagt. Träum weiter! Aber eines will ich dir noch mitgeben auf deinen Weg: Wenn du eine Glocke schlagen hörst, dann lauf, lauf so schnell du kannst!

Kaum hatte er das gesagt, war der Riese so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Tim lag auf einem weichen Bett aus Moos und blinzelte in einen wunderblauen Sommerhimmel; da wusste er, dass er die Brücke über den Fluss auf eine ihm verborgene Weise überquert haben und auf der anderen Seite sein muss.

X

Tim wusste im Traum, dass er träumt; denn wo und in keiner Zeit ist es möglich, ein aus der Ferne sich ankündigendes Getrappel zu hören, das nicht von Hufen rührt, sondern von den gepolsterten Läufen eines ganzen Gespannes von Schneehasen. Sie hoppelten in wildem Galopp durch den Wald und schlugen Hacken, um den Tannen auszuweichen, die nur gepflanzt zu sein schienen, um sie zu einem Slalom der besonderen Art herauszufordern. Mit einem einzigen Schnalzer der Zunge, den Tim gerade noch für eine Peitsche gehalten hatte, brachte ein auf dem Kutschbock sitzendes Männlein das Gespann zum Halten, indem die Schneehasen ihre Vorderläufe gleichzeitig in den weichen Moosboden bohrten. Das Männlein sprang aus dem Gefährt, verbeugte sich und sagte: Prinz Tim vom Hundertmorgenwald, stehe zu ihren Diensten. Sie werden erwartet.

Tim war nicht überrascht, so angesprochen zu werden. Es war nicht die Winzigkeit des Männleins, das in einer Uniform steckte und ihn mit seinen glitzernden Orden und Knöpfen an einen General oder an einen Zirkusdirektor erinnerte; auch nicht das seltsame Gespann von Schneehasen, die in der Sprache der Jäger rote Seher und eine schwarze Blume hatten, ihr Geschirr loswerden oder sich ungeduldig wieder in Trab setzen wollten; es war auch nicht die Kutsche, die einer kunstvoll gedrechselten und himmelblau bemalten Eierschale glich; das Gespann schien ihm lächerlich.

Ostern ist doch schon vorbei. sagte er.

Wenn du meinst, antwortete das Männlein, und im gleichen Augenblick verwandelte sich die aus Eierschalen gezimmerte Kutsche mitsamt dem Gespann in einen Schlitten, den zierliche Rentiere zogen.

Tim musste lächeln. Weihnachten ist noch weit weg, hörte er sich sagen, aber es konnte durchaus sein, dass sie miteinander verkehrten, wie die Bewohner eines untergegangenen Kontinents, die keiner Sprache bedurften, um sich untereinander verständlich zu machen.

Stets zu Diensten, meinte das Männlein, und wieder verwandelte sich das Gefährt – ohne Simsalabim und Zauberstab – in der Zeit, die man für einen Wimpernschlag braucht, in eine schwarze Karosse, der sechs herrliche Rappen vorgespannt waren. Auf dem Kutschbock saß das Männlein selbst; es trug jetzt einen Zylinder, aber irgendwas stimmte nicht. Ihm saß der Kopf verkehrtherum.

Aus dem Fenster der elfenbeinschwarzen Karosse hing eine Hand. Die lockte ihn, näher zu kommen. Gleichzeitig schlug eine Glocke an.

Tim erschrak.  Das durfte nicht wahr sein. Das konnte nicht wahr sein. Drinnen saßen… drinnen saßen …

XI

Tim war aus dem Bett gefallen. Er muss laut geschrien haben, weil seine Großmutter ins Zimmer gerannt kam und auf ihn hinstürzte: Was ist passiert, Tim? Was ist denn los?

Als sie sein schreckverzerrtes Gesicht sah, als hätte er den Leibhaftigen gesehen, bettete sie seinen Kopf in ihren Schoß. Tim zitterte am ganzen Körper. Seine Haare waren schweißnass. Dann brach es aus ihm heraus: Ich hab‘ sie gesehen. Ich hab‘ sie gesehen. Dabei schluchzte er, dass er kaum noch Luft holen konnte.

Jetzt beruhige dich doch! Was hast du gesehen?

Ich hab‘ sie gesehen, wiederholte Tim, ohne auf die Frage einzu-gehen.

Du hast geträumt, mein Schatz. Du hast schlecht geträumt. So beruhige dich doch.

Aber Tim war nicht zu beruhigen.

Er befreite sich aus den Armen seiner Großmutter und schrie sie an: Ich möchte zu meiner Mama und zu meinem Papa. Ich will zurück in mein Zimmer.

Er war aufgestanden und hatte mit dem Fuß aufgestampft. Groß-mutter saß in ihrem Nachthemd auf dem Boden und war wie gelähmt. Jetzt ist es da, dachte sie. Ich habe es befürchtet. Aber die ganze Zeit über habe ich gewusst, dass es so kommen würde.

Tim hatte herzerbärmlich zu weinen begonnen, und seine Groß-mutter musste alle Kunst aufbieten, ihm ein Trost zu sein.

Ich weiß, dass ich dir deine Eltern nicht ersetzen kann, begann sie. Ich habe meine Tochter verloren. Du aber gleich zwei Menschen und dein Zuhause. Seitdem ist kein Tag vergangen und keine Nacht, in der ich nicht an sie hab denken müssen. Ob sie das gewollt hätte, dass du bei mir aufwächst? Ob ich dafür nicht schon zu alt bin? Alles das habe ich mich gefragt. Ich habe dir das nie gesagt, aber jetzt tu ich’s. Ich war und bin noch immer so froh, dich um mich zu haben. Ich kann dir gar nicht sagen, wie. Aber deine Eltern kann ich dir nicht ersetzen. Das kann ich nicht.

Tim sah sie vor ihm auf dem Dielenboden seines kleinen Zimmers sitzen und hörte sie, wie von weit her, Sachen sagen, die – bis eben -nie zur Sprache gekommen waren. Und wieder platzte es aus ihm heraus: Du hast gesagt, sie sind im Hundertmorgenwald. Du bist schuld.

Aber, aber Tim, sagte die Großmutter. Ich kann doch nichts für deine Träume. Du hast deine Eltern gesehen. Das ist doch gut. Das ist ein gutes Zeichen. Sie wollten dir bestimmt nur zeigen, dass es ihnen gut geht, dort, wo sie jetzt sind.

Aber sie sind tot, begehrte Tim auf. Sie kommen nicht mehr zurück. Es war so ein Totenwagen, indem sie gesessen sind, und der Kutscher hat den Kopf verkehrtherum gehabt.

Weißt du Tim, sie haben sich nur bei dir gemeldet, weil du dich zwingen hast wollen, sie zu vergessen. Und das mit dem Kutscher und seinem Kopf verkehrtherum beweist, dass du sie in ihrer Welt besucht hast, in der alles möglich ist. Auch, dass sie leben. Du kannst sie dort besuchen, wann immer du willst. Aber du kannst – auch ohne von ihnen zu träumen – mit ihnen sprechen. Sie hören dich, glaub mir.

So redeten sie das erste Mal, und die Großmutter bemühte sich, so ehrlich wie möglich zu sein, und seinen Fragen nicht auszuweichen und sie der Reihe nach zu beantworten. Doch das, wie die Eltern umgekommen sind, nachdem die Nachbarn ihre Heimat überfallen hatten, verschwieg sie ihm. Es wird die Zeit kommen, wo sie mit ihm auch darüber sprechen wird können. Der Krieg aber, der sie von dort vertrieben hatte, wo ihr Hundertmorgenwald lag, wütete noch immer, und nie versiegte der Strom der Flüchtlinge, die – je länger der Krieg dauerte – immer weniger willkommen waren.

Der Morgen dämmerte herauf und Tim lag im Bett und seine Oma saß auf der Bettkante und hielt seine Hand und beide schwiegen.

Tim sah auf die schwieligen, zerfurchten und von hervorquellenden Adern durchzogenen Hände, die seine, wie einen kleinen, schutz-suchenden Vogel bargen, und fühlte sich behütet und aus dem Nest geworfen und traurig und froh und alles auf einmal und gleichzeitig.

Wir werden zurückkehren, seufzte Großmutter. Irgendwann wird auch dieser Krieg zu Ende sein.

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