Sich selbst erfüllende Prophezeiung

Im Stadtpark Jugendliche. Sie sitzen auf beiden Seiten des Gehwegs und machen seinen Spaziergang zum Spießrutenlauf. Einer hat ein Handy und nimmt ihn auf. Unter ihren abschätzenden Blicken, die Böses ahnen lassen, und ihn wie Hiebe und Fußtritte treffen, geht er stur geradeaus und versucht, ihnen seine Angst nicht anmerken zu lassen. In der Tasche sein Tagebuch. Er stolpert über einen ausgestreckten Fuß, fällt hin. Das Tagebuch ist aus der Tasche gefallen und liegt nun auf dem Boden – aufgeschlagen auf der Seite, auf der er seine letzte Eintragung mit einem nachfüllbaren Filzmarker in Linearschrift vorgenommen hat; der einzigen Schriftart übrigens, mit der es bis zu ihrer drohenden Abschaffung möglich war, als Kind seinen Namen in den Schnee zu brunzen. Aber es lag kein Schnee, um tausend Jahre später den Beweis seiner Existenz noch einmal auf diese Art auszuführen. Das Terrain markierten die andern. Schon lange.
Einer der Jugendlichen – vermutlich der Anführer – pflückt das Tagebuch vom Boden, wie man es mit einer Blume tut, die man ihrer Auffälligkeit wegen vom Wegrand pflückt, um sie dann wieder achtlos wegzuwerfen. Er rappelt sich auf, stürzt auf ihn los, will ihm das Buch entreißen. Verständlich, denn es enthält Eintragungen, die nur solchen Büchern, niemals aber auch einem Menschen anvertraut oder zugemutet werden. Der Bandenführer wirft es dem zu, der hinter ihm steht. Er dreht sich um, geht auf ihn los. Der schaut ihn an, sieht einen älteren Mann, der sein Vater oder sein Lehrer sein könnte, mit dem er noch was auszutragen hat, lacht und wirft es – ein vielflügeliges Wesen jetzt, das sich aber trotzdem der Schwerkraft nicht entziehen kann – über seinem Kopf dem nächsten zu, der mit den anderen einen Kreis gebildet hat, in dem er nun tanzt. Ein Tanz, dessen Choreografie wirkt, als wäre er einstudiert, bis ihn ein Schlag trifft, der ihm fast das Bewusstsein raubt. Er hört, wie sein Kopf aufklatscht wie ein mit Wasser gefüllter Tonkrug. Er hört, wie sie einander laut die Einträge mit Angabe des Datums vorlesen: „29.2. Gehen. Im Gehen die Stunden abklopfen, wie Schuhe auf einer Schwelle.“
Ein Dichter, sagt einer. Ein Trottel, ein anderer. Sie lachen.
„2.3. Scharren im Startloch, das zerrissene Zielband vor Augen.”
Der übt für den Marathon, sagt der mit den Slim Fit-Jeans und einem schwarzen Hoodie. Sie wollen sich totlachen, jetzt aber verstummen sie, weil eine Eintragung genau von dem handelt, was in diesem Augenblick passiert. Sogar die Namen stimmen mit den ihren überein.
„4. 5.: Drei Jugendliche: Martin, Manfred und Boris, die sich als Mambo-Gang einen Namen gemacht haben und ihre happy-slappings auf Youtube hochladen, halten mich auf, bemächtigen sich meiner Tasche, in welcher sie unter anderem mein Tagebuch finden. Das wird lustig, denken sie…“
Martin, der Vorleser, bricht mitten im Satz ab und lässt das Tagebuch auf den Boden fallen. Sie schauen sich an. Ihre Gesichter zeigen Entsetzen. Jetzt sind sie es, die es wie ein Fausthieb trifft. Auf alles, selbst auf Gegenwehr, waren sie vorbereitet, nur darauf nicht, dass sie jetzt lesen, was sie gerade tun, In welchen Film sind sie da geraten? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Sie stürzen davon.
Das kann er verstehen. Ihm geht es ja genauso. Es ist das dritte Mal in Folge, dass seine Tagebucheintragungen Ereignisse vorwegnehmen, von deren Eintreffen er nicht die geringste Ahnung haben konnte. Bis jetzt aber war er es selbst, der diese Übereinstimmung mit zunehmendem Staunen zur Kenntnis nahm, sie erst als Zufall abtun wollte, jetzt aber nicht nur selbst Opfer einer Drehbuchszene wurde, die er als Skizze vor wenigen Stunden entworfen und erfunden hatte, sondern ungewollt Zeugen fand, die das im Tagebuch festgehaltene Geschehen als Täter – wie soll er es formulieren? – ja, nachinszenierten. Wenn das nicht Angst macht, was dann? fragt er sich. Was käme als nächstes? Das muss ein Ende haben. Er sammelt auf den Knien rutschend die zerstreut herumliegenden Blätter ein, zerreißt sie in kleine Fetzen.
„Ich werde das Tagebuch nehmen und es in den Kanal werfen, der den Stadtpark in zwei Hälften teilt. Nie wieder auch nur eine Zeile“, will er gerade denken, als ihm mit noch größerem Schrecken einfällt, dass auch dieses Tun auf den folgenden Seiten, die er eben zerrissen hat, vorweggenommen war, und er in den letzten Zeilen, zu deren Vorlesung es ja leider nicht gekommen war, bereut hatte, diesen Entschluss gefasst zu haben.

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