Wer Schach spielt, weiß, dass es bis zu 20 Züge gibt, bis das eigentliche Spiel beginnt. Vorausgesetzt, der gegnerische Spieler kennt die Regeln, kann schon der erste Zug mit einer Spielfigur als sizilianische, spanische oder königsindische Eröffnung erkannt werden und das ist für den erfolgreichen Spielverlauf entscheidend.
„Warum schauen sie so angestrengt aus dem Fenster? Was sehen sie oder besser, was denken sie, wenn sie aus dem Fenster schauen? Die Landschaft ist nicht unbedingt atemberaubend. Verzeihen sie meine Aufdringlichkeit. Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten. Oder störe ich etwa? Sie können mir das ruhig sagen.“
Ich war so überrascht, dass ich sie sekundenlang völlig entgeistert angestarrt haben muss, weil sie sich schon entschuldigen und wieder ihrer Lektüre widmen wollte. Das war – um in der Sprache des Schachspiels zu bleiben -, ein Gambit, wie es mir noch nie untergekommen war. Sie hatte nämlich alle Eröffnungszüge überspringend gleich etliche Bauern und Leichtfiguren geopfert, aber warum? Einen strategischen Vorteil zu erringen? Einfluss auf das Zentrum nehmen, um es später sprengen zu können? Ohne Zweifel, denn sie brachte mich in Zugzwang. Ich war also gar nicht mehr imstande, mich zu fragen, welche der zwei Möglichkeiten ich wählen soll. Ich war schon mitten im Spiel, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Vielleicht hat sie das alles nur gedacht und so nicht gesagt. Ich weiß es nicht mehr. Wir waren allein im Abteil. Eine Frau und ein Mann. Zwangsläufig musste sich früher oder später ein Gespräch entwickeln. Ich konnte gar nicht anders, als dieses Damengambit annehmen.
Oder war es ich, zumindest ein Ich, das sich daran erinnern wollte, wie es war, ich zu sein, das seine Deckung aufgab – irgendwann musste es ja geschehen, denn auf der Suche nach dem, der ich einmal gewesen sein muss, dürfte ich verloren gegangen sein, und als dieses Ich zurück wollte, war niemand mehr da.
„Entschuldigen sie mich, wenn ich störe. Darf ich sie fragen, was sie da lesen? Mir kommt vor, als würde ich schon viele Wochen unterwegs sein und trotzdem habe ich niemanden kennengelernt. Ist das nicht komisch? Immer nur flüchtige Begegnungen, Bahnhofs- oder Zugbekanntschaften. Namen von Menschen und Städten wie der Nachhall von Schüssen aus rauchenden Revolvern, wenn sie verstehen, was ich meine.“
Sie lässt das Buch aufgeschlagen auf ihren Knien ruhen, gibt entschlossen die Brille von der Nase, sieht mich mit graugrünen Augen an, die mir sofort aufgefallen waren:
„Soll ich ihnen einen Satz vorlesen, der mich beim Lesen innehalten ließ?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, suchte sie auf der noch immer aufgeschlagenen Seite den Satz, den sie mir vorlesen wollte:
… „und an jenem Tag stand ich mir mit der ängstlichen Verblüffung von jemandem gegenüber, der einem Vampir begegnet und kein Kruzifix zur Hand hat…“ Das ist ein Satz aus dem Buch, das ich gerade lese. Hat ein Buch auch nur einen Satz wie diesen, bereue ich weder das Geld, das ich ausgegeben habe, um es zu kaufen, noch die Zeit, die ich aufgewendet habe, es zu lesen.“
Sie mögen jetzt einwenden, dass diese Art der Unterhaltung völlig gekünstelt und aus der Luft gegriffen ist, aber ich schwöre, es war so. So oder ganz anders muss es gewesen sein, als wir uns kennenlernten.
Wie einer, der über die grüne Grenze geht und sich ohne Pass und Identität in einem ihm unbekannten Land befindet, so fand ich mich wieder, gab mir einen Namen, schenkte mir eine Heimat, die ich als irdisches Paradies beschrieb, aus dem ich verstoßen worden war, erfand eine Biografie, deren Wahrheitsgehalt niemand nachprüfen konnte, erfand Vorkommnisse, die ich mit detailgetreuen Schilderungen ausschmückte und Orte, die auf keiner Landkarte zu suchen waren, weil es sie nicht gab und noch viel weniger die Menschen, die dort gelebt und mich angeblich auf meinem Lebensweg geprägt haben sollen. Das gelang mir nach einiger Übung so vollkommen überzeugend, dass die wenigsten und auch sie nur selten nachfragten, oder – diese Zweifel wurden nie zerstreut – mir nur das Gefühl geben wollten, dass es für mich an der Zeit sei, daran zu glauben, eine Vergangenheit zu haben, die es wert war, erzählt zu werden. Keine Geschichte zu kennen, keine eigene zu haben, kam mir vor, als würde ich in digitaler Echtzeit leben, nur dem Augenblick verpflichtet, den Bits und Bytes, und nicht mehr dem Wort; wie ein Mondsüchtiger, der in schwindelerregender Höhe über Dachlandschaften klettert und nicht wissen darf, dass er träumt, weil er sonst abstürzen würde.
Vielleicht war sie deshalb so nachsichtig, weil sie selbst nicht hierher zu gehören schien, obwohl diese Stadt – wie sie mir, ohne müde zu werden, versicherte, (vielleicht zu oft, um glaubwürdig zu bleiben), ihr Lebensmittelpunkt geworden sei, nachdem sie ihr Vaterland und ihre Muttersprache aufgeben hätte müssen. Im Gegensatz zu mir, der die zu schleppende Last der Vergangenheit losgeworden war und sie sich gerne wieder aufgebürdet hätte, um sie nicht mehr erfinden zu müssen, verspürte sie absolut kein Verlangen, mir aus jenem Leben zu berichten, das für sie nach ihrer Flucht wie ein ganzer Kontinent untergegangen war. Für sie gab es nur ein Leben auf der Erde und kein Jenseits, keine Offenbarung, alles nur Oberfläche, keine Tiefe und mit ihr Geheimnisse, die geteilt oder vorenthalten werden können. Dort, wo sie herkomme, sagte sie einmal, genüge die Oberfläche, die wir so abtun, so, als wäre nur das, was unter ihr verborgen liege, wichtig. Bei uns, sagte sie, nun etwas nachsichtiger, bei uns sind Oberflächen tiefgründig.
Manchmal hatte ich sie in Verdacht, dass, was sie für ihr Wesen hielt oder ausgab, auch das nur gespielt und nicht sie war. Wer aber kann von sich sagen ICH bin ICH! Außerdem waren es gerade diese Gegensätze, die das, was sich da zwischen uns anzubahnen schien, so spannend machte.
So hätte es lange weitergehen, und ich hätte vielleicht beginnen können, mich wirklich einmal irgendwo wie jemand zu fühlen, der angekommen und nicht mehr auf der Flucht war, …, aber lassen wir das. Es sollte nicht sein.
Die Zeiger auf der schnörkellosen Wanduhr zeigten nach wie vor die gleiche Stunde. Es war Punkt vier Uhr und daran änderte sich nichts, auch wenn er sie nicht aus den Augen ließ. Es konnte vier Uhr am Nachmittag oder auch am Morgen sein. Das von den grünlichen Wänden abgestrahlte antiseptisch wirkende Licht gab darüber keine Auskunft. Sie konnte nur stehen geblieben sein, denn er schloss die Augen und zählte bis sechzig, doch der große Zeiger war keinen Millimeter weiter gerückt, nachdem er sie wieder aufgeschlagen hatte. Beides fiel ihm schwer: das Zählen noch mehr als das auch nur mit großer Anstrengung gelingende Öffnen und Schließen der Augenlider.
„Er ist aufgewacht“, sagt eine körperlose Stimme. Sie sagt es in einer ihm fremden Sprache, und während er sich noch wundert, dass er sie trotzdem verstanden hatte und sich gleichzeitig fragt, ob sie ihn gemeint haben könne, der aufgewacht sei, dämmert ihm, dass es kein Bahnhof war, kein Zugabteil und noch viel weniger ein Bett, das er mit einer ihm vertraut gewordenen Frau teilt, die er angeblich auf einer Zugfahrt kennengelernt haben will, Svetlana mit Namen, sondern das Bett in einem Spital. Das Bett in einem Zimmer der Intensivstation.
Jedes Mal, wenn ich aufwache, verschafft mir diese Feststellung eine gewisse Erleichterung, aber schnell wird sie von der Angst abgelöst, dass ich in einem Zeitfenster gefangen bin, aus dem ich mich zu weit hinausgelehnt habe.
Ich kann mich nicht bewegen, auch den Kopf nicht zur Seite drehen. Der einzige Blick, der mir noch erlaubt zu sein scheint, ist der auf die Uhr, die stehen geblieben ist. Und auf meine Füße, die nicht mehr mir gehören und aufgehört haben mir zu gehorchen. Wieder beugt sich eine Stimme über mich und ruft mir wie von weit her zu, der ich klaftertief liege mit einer grünlich schimmernden Decke als Himmel über mir: „He, bist du das?“ Und ich sage: „Wer glaubst du denn, dass ich bin? Natürlich bin ich das!“ Ich strecke die Hand aus und versuche ihn mit dem Zeigefinger anzufassen. Er hat sich tatsächlich anfassen lassen. Darüber bin ich so erschrocken, dass ich aufgewacht bin.
In seinen Ohren klopft wild das Herz, so als wollte es der stehengebliebenen Uhr trotzen, an ihrer Stelle das Tiktak aufnehmen, das seine ihm gestundete Zeit in Herzschlageinheiten zerlegt. Er sitzt auf einer Bank. Er sitzt schlecht, da zwei Latten fehlen. Aus dem Beton zu seinen Füßen wachsen dort, wo durch Kälte und Hitze über die Jahre Risse entstanden sind, kleine gelbe Blumen. Neben der Bank steht ein Koffer. Er trägt einen Mantel und seine Hände sind tief in den Taschen vergraben. Es ist kalt. Ein verrostetes Messingschild flattert wie ein zerbrochener Flügel im Wind. In seinem Auge entsteht das Bild einer kargen Landschaft, der alles zu fehlen scheint, was einen Fotografen faszinieren könnte: Menschen, Farbe, Leben. Sein Schatten aber, der sich wie der blassblaue Himmel in der Regenpfütze spiegelt, die an einen Regen erinnert, der in der Nacht gefallen sein muss, hatte etwas Anrührendes. Es hätte ein Motiv sein können, eine Einstellung in einer langen Sequenz, die nichts anderes will, als diese Szene einfangen, die vom Warten erzählt auf einem längst schon aufgelassenen Provinzbahnhof, vom Warten auf etwas, das nie eintreten würde, gleichzeitig aber von einer Hoffnung, die sich nicht enttäuschen lässt. Durch nichts. Nie.
In das Schweigen hinein, in die das wütende Surren einer immer wieder gegen die beleuchtete Milchglasscheibe aufprallende Fliege die Grenze zwischen dem Hörbaren und Gedachten sucht, wird er gefragt, ob er denn nicht wisse, dass er in Wirklichkeit tot sei. Es – die Stimme ist keinem ihm bekannten Geschlecht zuzuordnen – könne zwar verstehen, dass er das nicht wahrhaben wolle, es sei aber Zeit, sich damit abzufinden. „Sie sind hier, weil es meiner Aufgabe obliegt zu entscheiden, in welche Kategorie sie gehören, und wo sie unterzubringen sind.“
Das Erstaunliche ist, dass sich die Lippen des oder der Fremden dabei nicht bewegt hatten, und noch erstaunlicher, dass ihn, den Patienten, das nicht wundert. War das nach seiner Geburt verhängte, aber auf unbestimmte Zeit ausgesetzte Todesurteil nun tatsächlich vollstreckt worden? War es eine Nahtoderfahrung – ihm auferlegt, endlich die richtigen Schlüsse aus ihr zu ziehen, um wieder zurückgekehrt, ein anderes Leben zu führen, eines nicht im Glauben an- oder Hoffen auf, sondern im Wissen darum, dass der Tod nicht das Ende ist?
„Du sollst jetzt nicht spekulieren, sondern mir folgen“, unterbricht ihn die Stimme. Während ihn noch beschäftigt, warum der Fremde so plötzlich von der förmlichen Ansprache in das Du gewechselt hat, und ihn gerade fragen will, wohin er denn folgen solle, sitzt er plötzlich in einem Zug, der eben wie Stahlgewitter über eine Brücke donnert. Wohin? fragt der Schaffner. „Noch einmal zurück, bitte“, antwortet er tonlos, als der im Rock des Kaisers auftretende Schaffner ihn auffordert, ihm das Ticket zu zeigen. Umständlich werden seine Daten erhoben, dann wird die Fahrkarte mit einer Lochzange am Rande perforiert. Mitten in diesem Prozedere überrascht ihn eine Sturmflut von Bildern, die sich jetzt mit einer alle Gesetze aufhebenden Gleichzeitigkeit in seinem Kopf wie Furien jagen:
Auf einer Tragbahre liegt ein Mann. Aus dem Druckverband quillt Blut. Ein glatter Lungendurchschuss. Sie wollen ihn krepieren lassen. Er soll hier zwischen steil aufragenden Felswänden mit Blick auf die Drei Zinnen einfach verbluten. Es gibt kein Wasser mehr, keine Maultiere, keine Moral. Er zwingt zwei Sanitäter mit vorgehaltener Armeepistole, ihn ins Tal zu tragen. Er fürchtet, dass sie sich über Blicke verständigen und ihn wie Müll über den nächsten Felsen kippen. Gefallen in den Dolomiten, würde es heißen. Für Ehre und Vaterland. Wenn er es ins Lager schafft, ist für ihn der Erste Weltkrieg vorbei, aber seine Kräfte verlassen ihn. Er schließt die Augen. Schicksals-ergeben. Er winkt ihm zu, wird immer kleiner. Er erinnert ihn an seinen Großvater.
Das holzgetäfelte Zugabteil gehört ihm ganz allein. Auch die Sitzbänke sind aus Holz. Unter der Gepäckablage Spiegel und Stiche von Winterlandschaften. Ein Zug von oben, der sich wie eine schwarze Raupe über Mehl windet. Die Lokomotive pfeift wie aus dem letzten Loch. Ein langgezogener Akkord aus zwei Oktavlagen und einer verminderten Terz. Dann nichts mehr. Schwarz. Auch die Deckenbeleuchtung ist ausgefallen. Sie sind in einem Tunnel:
Es ist die zweite Angriffswelle. Spreng- und Brandbomben fallen wie Regen vom Himmel über seine Stadt. Kein Wasser kann den Feuersturm löschen. In den Luftschutzkellern ersticken die Menschen in den Brandgasen. Ein Blinder tastet an den Wänden entlang, sucht die Stiege. Sie trampeln über ihn hinweg. Er liegt am Boden. In Embryohaltung. Versucht sich zu schützen, verliert das Bewusstsein. Ein in Erzählform gebrachter Nachlass vom Vater des Vaters. Er hat ihn nicht kennengelernt.
Noch immer rast der Zug über die Brücke. Ein Schallgewitter aus wabenartigen Rhomben, aufgetürmt, um im gleichen Augenblick zu zerfallen. Mikado aus Stahl.
Eingeschlossen im Stahlkäfig eines Panzers unter den tonnenschweren Steinen einer eingestürzten Brücke erwacht er aus seiner Betäubung. Der Fahrer neben ihm tot. Beide Einstiegsluken nicht mehr zu öffnen. Der durch Panzerglas abgesicherte Sehschlitz zeigt Gesteinstrümmer und Teile des eingebrochenen Stützpfeilers auf der anderen Uferseite. Mörderhitze und Verwesungsgeruch rauben ihm den Atem. Er ist erst 17. Kein Wasser. Wie lange schon? Wie lange noch? Muss ich sterben? So kurz vor dem Ende des zweiten Weltkriegs?
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