Vergiss es!

Die Stationsschwester wischt ihm den Schweiß von der Stirn. „Sie haben ziemlich wirr geträumt.“, sagt sie, nimmt das Thermometer aus seiner Armbeuge, prüft den Säulenstand des Quecksilbers, schüttelt den Kopf und dann das Thermometer, schreibt etwas auf das Klemmbrett, hängt es am Bettende auf und geht aus dem Zimmer. Gleich darauf kommt ein Pfleger, bockt das Bett auf, das nun auf Rädern steht und schiebt es hinaus auf den Gang, dann in den Lift. Ein Freund hält meine Hand, beruhigt mich. Wird alles gut gehen. Wirst sehen.
Das Einzige, das ich mit Bestimmtheit weiß, ist, dass ich vor diesem Leben ein anderes geführt haben muss; dass, bevor ich mich hier wiederfand, etwas geschehen sein muss, woran ich mich mit bestem Willen nicht mehr erinnern kann. Nicht einmal Bruchstücke. Nicht der kleinste Hinweis. War ich verheiratet? Hatte ich Kinder? Welchem Beruf ging ich nach? Wo habe ich gelebt? Wo war mein Zuhause? Was war meine Heimat? Was war meine Muttersprache? In welchen Sprachen habe ich geträumt? Und mein Vaterland? Ja, wer war denn mein Vater? Wer waren meine Eltern? Was hat die Erinnerung an sie ausgelöscht? Es waren von Verzweiflung diktierte Fragen. Es waren Fragen, die sich jemand stellt, der zwar Ich sagen konnte, aber von seinem derzeitigen Ich nicht wusste, wie es mit seiner Vergangenheit verknüpft war. Es war nicht Alzheimer. Es war eine Art von Amnesie, verursacht von einem Unfall, an den sich zu erinnern, ihm nicht möglich war.
So wie ein Magier mit der Illusion eines sechsten Sinnes arbeitet, um zwischen Realität und Fiktion eine Brücke zu schlagen, hatte er gelernt, seine Erinnerungslücken so gut zu kaschieren, dass es niemandem auffiel. Eine erstaunliche Leistung, wie sie gleich feststellen werden:
Schon mit dem ersten Blickkontakt in diesem Zugabteil, wurde mir klar, dass ich nun – das ist das einzige, woran ich mich tatsächlich noch erinnern kann, zwei Möglichkeiten hatte: Weiterhin wie gebannt aus dem Fenster auf die vorbeiziehende steppenartige Landschaft schauen, die chromatisch nur in Grauweiß und Schwarzgrün getaucht war, und so signalisieren, dass ich an keiner Kontaktaufnahme interessiert bin oder mich auf ein Gespräch mit der Frau einzulassen, die in dem Abteil Platz genommen hat, nachdem der Zug eine längere Zeit auf einem Bahnhof stehengeblieben war, der so aussah,  als wäre er vor vielen Jahren stillgelegt und die Züge aus dem Verkehr gezogen worden. Auf den Schienen wucherte das Gras.  Langsam quälte sich die Lokomotive aus der Stadt hinaus, – vorbei an den Barackenwohnungen, an Baustellen über Baustellen, Schrott- und Abraumhalden, stillgelegten oder zerstörten Fabrik-anlagen, an bis zum rostigen Stahlskelett ausgeweideten Karosserien von Güterwaggons, wilden Mülldeponien zwischen gepflegten, hoch eingezäunten villenartigen Häusern mit üppigen Gärten voller Rosen, Oleander und Wein.
Da es keine Streckenleitung und auch keine Schranken gibt, pfeift sich der Zug stampfend und qualmend durch die Landschaft, um etwaige Verkehrsteilnehmer auf ihn aufmerksam zu machen. Wir haben ein ganzes Abteil für uns allein. Sich weit aus dem Fenster zu beugen empfiehlt sich nicht, da man von nicht gerodetem Gebüsch, scharfkantigem Schilf oder Ästen, die an den Zugwänden vorbeischrammen, so zugerichtet wird, dass man sich nicht nur auf Grund der zerborstenen Spiegel, die neben sepiafarbigen Ansichten von Städten, die man auf Landkarten mittlerweile wohl vergeblich sucht, daran erinnern wollen, dass diese Züge noch lohnende Ziele kannten, nicht mehr wieder erkennen würde.
Wie mich ihr vorstellen, was ihr von mir preisgeben, wenn ich nicht einmal weiß, welchen Namen ich trage, woher ich komme, wohin ich will und warum? Nicht, dass es mich beunruhigt hätte, in diesem Zug zu sitzen, ohne sein Fahrtziel zu kennen – Züge kennen nur Bahnhöfe und von diesen aus lassen sich wieder Züge mit anderen Zielen buchen. Ich hätte immer so weiterfahren können, meine Reisetasche, dessen Inhalt mich immer wieder von Neuem überraschte, in die Gepäckablage anderer Abteile wuchtend, in der Hoffnung mich mit niemandem austauschen zu müssen außer vielleicht über das Wetter oder die Zeit, wenn es die wenigen Sprachen erlauben, die ich seltsamerweise beherrsche, nicht fließend, aber so gut, auf mir gestellte Fragen zumindest einsilbig antworten zu können. Was mir Angst machte, war die schiere Möglichkeit, dass so ein Gespräch über eine solche Eröffnung hinausgehen könnte.
Wenn ich danach fragte oder selbst gefragt wurde, wie spät es sei, war es übrigens immer Punkt 4 Uhr, ein Stillstand, der mich weit entfernt eine Panik auszulösen und die Notbremse ziehen zu wollen, – immerhin raste der Zug ohne anzuhalten durch den frühen Morgen oder Abend -, lediglich irritierte, da mich die wahrnehmbare Beschleunigung und das rhythmische Toctoc – verursacht durch die Nahtstellen der Geleise – schnell wieder einschlafen hätte lassen,  hätte meine Begleiterin, die in ein Buch vertieft zu sein schien, das nicht vereiteln wollen.

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