Die Schaukel

Er prüft die auf der Teppichstange befestigte Schaukelvorrichtung. Ob die Ketten noch halten? Das Brett jedenfalls ist noch nicht morsch. Das quietschende Geräusch, das entsteht, wenn die Ketten sich an der Querstange scheuern, hat ihn angelockt. Er muss die Augen schließen, um den Hinterhof wiederzuerkennen, in welchem der Werkzeugschuppen stand. Dort hat er – angeleitet von seinem Großvater – gelernt, rostige Nägel aus Brettern zu ziehen und sie geradezubiegen, damit sie wieder verwendet werden können. Er schließt die Augen und sieht seine Großmutter im blauen Anton, wie sie mit einer Axt einer Henne den Kopf abtrennt, die aus dem Hals blutend aufsteigt und flatternd sich fast bis zum First des Geräteschuppens hinaufschwingt, um plötzlich wie ein Stein vom Himmel zu fallen. Er hört die Glocken der Herz-Jesu-Kirche und die Mutter zum Essen rufen. Als er die Augen wieder öffnet, erfasst ihn eine kalte Welle und wirft ihn ans Ufer einer fremdartigen Gegenwart, mit der er out of sync ist. Zuviel hat sich verändert. Nur der Schuppen steht noch, aber was einmal ein Garten war mit vielen fruchttragenden Bäumen, Sträuchern, die seine Großeltern gepflanzt, und Beeten, die sie und seine alleinerziehende Mutter angelegt hatten, ist jetzt Wiese, deren Gras schon lange kein Rasenmäher mehr, geschweige denn eine Sense geschnitten hat.
Er setzt sich auf die Schaukel. Eigentlich müsste er jauchzen, wie er es als Kind getan hat. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und er lebt, während Jüngere sich schon verabschiedet haben. Sein Freund Gerald zum Beispiel, der vor wenigen Monaten beim Versuch, seinen Hund zu retten, sich in die hochwasserführende Traisen gestürzt hat und ertrunken ist. Seine Jugendfreundin Inge, die nach einer Krebsdiagnose mit beinahe sokratischer Gleichgültigkeit sich von der Welt verabschiedet hat.

Auch wenn er um Bitteres weiß, von dem er wünschte, er wüsste es nicht, sitzt er noch nicht im Haus Sonne und starrt auf ein Adressbuch mit durchgestrichenen Namen. Auch zweifelt er noch nicht an seinem Mindset, obwohl Wortfindungsstörungen Gespräche schwieriger gestalten und er sich nur behelfen kann, indem er das so plötzlich Vergessene, aber auf der Zunge Liegende zu umschreiben versucht. Er findet so oft zu sich, wie er sich verliert und hat den Moment zu genießen begonnen, weil es angeblich nur diesen gibt. Hätte er das früher gewusst, dass erst die Summe ihrer Reihung eines jeden Leben ausmacht, hätte ihn die Frage umgetrieben, wer er in diesem Leben hätte sein können, wer er in Wirklichkeit gewesen ist und wer er hätte sein sollen, müsste er sich jetzt nicht einen Kaffee machen, um sich von diesen quälenden Fragen abzulenken.

ERLAUBE ES DIR! Dieser Imperativ ist zu seinem Mantra geworden. Erlaube dir zu gewinnen. Glaube daran, dass du das Siegen verdient hast, aber bleib demütig! Was aber soll er gewinnen? Welche Siege hat er verdient? Warum soll er demütig bleiben. Er ist doch kein Abfahrer auf der Suche nach der besten Linie, keiner, den eine Piste abwirft, weil er mental blockiert ist; in keinem Sport lauert für ihn Gefahr, da er keinen betreibt. Mit Sinnsprüchen, wie sie ihm täglich in die Timeline diverser Kanäle gespült werden, kann er genauso wenig anfangen, wie mit … – siehst du, jetzt ist es passiert, und der Vergleich, den er anstellen wollte, ist ihm entfallen. Vielleicht doch blockiert. Er merkt sich nichts mehr, kann nichts mehr halten.

Er versucht Koreanisch zu lernen. Es hat nur 40 Buchstaben. Die kann er sich einprägen und bald schreiben; aber aussprechen? Seine Ohren können die feinen Nuancen nicht mehr unterscheiden zwischen dwae, dwe dwoe. Die Unterschiede zwischen Schrift- und Lautsprache sind beinahe so wie im Französischen. Und nicht nur das, es muss so viel mitbedacht werden, dass er sicher schon beim Versuch, sich vorzustellen scheitern wird. Es gibt kein Du. Das wird als unhöflich angesehen. Schnell müssen Name, Beruf und Alter in Erfahrung gebracht werden, um die Person, mit der man gerade in Kontakt tritt, ihrem Stand und den kulturellen Gepflogenheiten entsprechend ansprechen zu können. Beim Verabschieden muss beachtet werden, ob man sich von jemandem verabschiedet, der bleibt, während man selbst geht oder umgekehrt; dann verändern sich die Silben. Kommt man in eine Gruppe, stellt man sich mit den Worten vor: Bitte seid nett zu mir! Es gibt eine Hierarchie, die auch körpersprachlich zum Ausdruck zu bringen ist. Ältere verlangen eine Verbeugung von 45 Grad. Die anderen bescheiden sich mit 10 Grad, während Gleichaltrige nichts davon einfordern. Der Löffel wird erst in die Suppe oder die Nudeln getaucht, wenn der Älteste zu essen begonnen hat. Nachdem das hauptsächlich er sein wird, findet er das eine gute Sitte. Endlich ein Land, in welchem man einem Älteren mit Respekt begegnet. Und noch etwas: Der vierte Stock wird meist mit dem lateinischen F (four) angezeigt, weil (sa) vier auch Tod bedeutet. An diesem F werde ich mich orientieren.

Ihm hat eben geträumt, dass er sich beim Schaukeln des mit Klettverschluss am Beinstumpf befestigten Prothesenschafts samt Beinstumpf entledigt und ihn in die Weite der Raumzeit geworfen hat, was seine Frage rechtfertigt, warum ihm ein Traum eine Versehrtheit vorgaukelt, wo er doch schon mit den das Alter begleitenden Ver- und Zerfallserscheinungen mehr als genug gestraft ist. Über den irrationalen Schrecken, von dem der dänische Lyriker Sören Ulrik Thomsen heimgesucht wurde, die Ewigkeit allein verbringen zu müssen, nachdem die Absprache, gemeinsam begraben zu werden, mit der Scheidung hinfällig geworden war, will er sich nicht lustig machen. Denn auch Ihn beschäftigt die Frage, was mit seinem Körper geschehen soll nach seinem Tod. Soll er sich kremieren und die Asche über der Brücke der Westbahn verstreuen lassen oder sich zu seiner Tochter und seinem Vater mit ins Grab legen? Sich ins Grab legen? Was für eine makabre Vorstellung. Sich ins Grab legen lassen, wenn schon. Ein passiver Vorgang. Ein Vorgang, an dem er nicht mehr beteiligt ist. Ein Vorgang, den er erduldet oder erleidet. Obwohl. Kann eine Leiche etwas erdulden oder erleiden? Grammatik. So wichtig.
79 Jahre wird man in unseren Breitengraden durchschnittlich alt, wenn man ein Mann ist und acht Verhaltensweisen befolgt: Pflanzlich dominierte Nahrung, körperliche Bewegung, Strategien zur Bewältigung von Stress, Nichtrauchen, erholsamer Schlaf, wenig Alkohol, keine Abhängigkeit von Opioiden und positive soziale Beziehungen. Frauen überleben die Männer um ganze 5 Jahre. In Jungbrunnen wird auch in naher Zukunft niemand fallen. Aber es gibt Hoffnung: Ein Wirkstoff namens Rapamycin – in Gesteinsproben eines Vulkans auf der Osterinsel entdeckt -, könne den Zellverfall hemmen und so die Lebenserwartung erheblich verlängern. Obwohl – die Klimakrise könne dieser einen Strich durch die Rechnung machen, weil durch sie 6 Lebensmonate wieder abzuziehen seien. Da es ihm leichtfällt, die 8 Verhaltensweisen einzuhalten, die das Leben verlängern helfen sollen, blieben ihm also noch drei Jahre, falls er sich zum Durchschnitt zählen will. So ein Ablaufdatum hat was für sich. Schnell will er noch seine To-do- oder Bucketliste abarbeiten, aber das, was er noch alles vorhat, ist in der Zeit nicht unterzubringen.

Was aber wäre noch unterzubringen, um auf dem Sterbebett Versäumtes nicht bereuen zu müssen? Sterbebett? Er muss an Smith denken, der heute mit der „vielleicht humansten jemals entwickelten Methode“ in Alabama hingerichtet worden ist. Stickstoffhypoxie, das zum Töten von Tieren verwendet wird. Ein langsamer Erstickungstod. 29 Minuten vom Anlegen der Maske bis zum festgestellten Tod. Was für ein Wahnsinn. Wahnsinn, der Methode hat. Nicht nur in God’s own country.
Eva von Redecker, die den Tod mit den Beiwörtern „unerträglich und unvermeidlich“ schmückt, schreibt in „Bleibefreiheit“: „Soll die Philosophie nicht doch, zumindest ein wenig, die Weisheit des Sterbens lehren? Das Loslassen im richtigen Moment? Mir scheint, dass sich so etwas wie die Annahme der Sterblichkeit gerade nicht im direkten Blick auf den Tod einstellt. Es ist eher ein bestimmter Blick auf das Leben, der der Endlichkeit den Schrecken nimmt: ein Sinn für erlebte Fülle, die Anlass zu Dankbarkeit bietet…“
Warum diese trüben Gedanken? Es sind keine Gedanken. Und sie sind nicht trüb. Sich mit der Sterblichkeit auseinanderzusetzen heißt, sich auf die unvermeidliche Unerträglichkeit oder unerträgliche Unvermeidbarkeit vorzubereiten. Da können auch Bilder helfen. Bilder im Kopf, die ab und zu aufpoppen und wieder verschwinden. Ungerufen aufpoppen und nur verschwinden, wenn er schläft, um dann von anderen Bildern abgelöst zu werden. Wie zum Beispiel denen einer Wand, durch die ein Riss geht, von dem er hofft und gleichzeitig fürchtet, dass er sich zu einem Spalt öffne, durch den er hineinschlüpfen und einen Blick ins Innere werfen kann. Der Spalt öffnet sich tatsächlich und er geht hinein. Vorsichtig, weil er eine Falle fürchtet. Natürlich ist es eine Falle, denn kaum hat er das Innere betreten, fällt er, und nichts hält den Sturz auf. Bis aus dem Sturz ein Fliegen und dann ein Gleiten wird, das er steuern kann und über das er Kontrolle hat. Er könnte sogar die Füße wieder auf die Erde bringen, wenn er das wollte, aber er weiß, dass er das weder kann, noch darf. Er schaut von einem Billionen Lichtjahre entfernten Stern auf den Planeten Erde und sieht ihn, wie er zu jener silurischen Zeit ausgesehen hat. Er sieht das alles nicht wirklich; nicht nur deshalb nicht wirklich, weil es ein Traum ist, sondern weil er zu jener Zeit noch nicht einmal gedacht, aber schon unterwegs war; trotzdem hat er eine Vorstellung davon und kann es sich denken, dass es eine Zeit ohne ihn gab und wieder geben wird, und Welten existieren, die seiner und aller menschlichen Existenz nicht bedürfen.

Genauso stellt er sich das Totsein vor. Die Ewigkeit als eine Zeit vor seiner Zeugung. Als Zeit, von der man annimmt, dass sie stillsteht, weil eine Sekunde Millionen Lichtjahre währen kann auf Kepler 9c und Lichtjahre schrumpfen können zu einer erdzeitlichen Nanosekunde, in welcher eine Sonne unter- und im gleichen Augenblick wieder aufgeht. Das ist ein tröstlicher Gedanke. Er erinnert ihn an den Spruch seiner Mutter, die sich in die Surrealität geflüchtet hat, wenn sie an die dachte, die vor ihr gestorben waren. „So viele, die das überlebt haben. Warum sollte ich es nicht auch.“
Die Schaukel an der Teppichstange in einem Garten mit einem Werkzeugschuppen… ist die auch nur geträumt? Nein: Alles ist da: der Garten, das Haus, die Mutter, der Werkzeugschuppen, die Großmutter, das Huhn … Nichts bewegt sich. Auch die Schaukel nicht. Die Axt nicht. Das Huhn nicht. Sein Blut aber tropft aus dem Hals und platscht auf den staubtrockenen Boden. Jeder Tropfen macht Platsch und die Schaukel quietscht in den Angeln. Er hat die Bodenhaftung verloren. Wenn er noch einmal antaucht, könnte die Schwerkraft ihm nichts mehr anhaben. Alles wartet auf den Schrei, der sie von diesem Zustand erlöst, maulaffenfeil zuschauen zu müssen, wie einer immer mehr Boden unter seinen Füßen verliert; aber er tut ihnen den Gefallen nicht. Er schreit nicht. Sie alle schreien nicht, niemand schreit. Noch nicht, weil Bangen und Hoffen sich das Gleichgewicht halten.

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