17 Jul Penultimo
Marcus wusste, dass beim Erscheinen seines Freundes alle Augen auf ihn gerichtet sein würden, da er ein Riese ist, wie es viele hier nicht gibt. Und so war es denn auch, als er im Gastgarten auftauchte und – nachdem er Marcus ausgemacht hatte – auf seinen Tisch zuhielt, und die, die mit dem Rücken zueinander saßen, eine Gasse bahnen ließ, als wäre er Moses, der die Fluten teilt.
Er begrüßt ihn, indem er ihn umarmt und ihm dabei den Atem abschnürt. Noch im Stehen winkt er den Kellner zu sich und bittet ihn, zwei Schnapsgläser und Limetten zu bringen, – jaja, es können auch normale Zitronen sein und ein Wasser, wenn geht – dann setzt er sich hin und zieht eine kleine Flasche aus seiner Tasche, die er um die Schulter hängen hat.
Die ist von deinem Freund. Ich solle, – das hat er mir aufgetragen -, penultimo dazu sagen. Er wüsste schon, was der in Übersee lebende Freund ihm damit sagen wolle. Worauf er – was auch eine Eigenart ist, die ihn auszeichnet – ihn, einen ehemaligen Lehrer fragt, ob der Konjunktiv von ihm richtig verwendet worden sei. Er findet es unverzeihlich, wenn mit der Sprache, die er sich so angeeignet hat, dass niemand auf die Idee käme, ihn für einen Ausländer zu halten, sorglos umgegangen wird.
Der Kellner kommt mit Gläsern, einer Karaffe Wasser, den angeforderten Zitronen und einer Presse: Ein Service, den nur erhält, wer in diesem Lokal Stammgast ist. Seine schnellen, eckigen und überschießenden Bewegungen fallen auf. Er ist neu. Auch seine Stimme hat was von einer Sprechpuppe, metallisch Klingendes, so irritierend, dass die Gäste einen Augenkontakt meiden. Als könnten sie Zeugen von etwas werden, was jeden Augenblick eintreffen kann oder auch nicht und unangenehm sein würde.
Während der Riese den Pisco sour zubereitet, will er wissen, was es mit „penultimo“ auf sich habe. Marcus will gerade ausholen und ihm von dem argentinischen Sänger erzählen, der in einem Lied sich mit dem Tod duelliert und ihn immer wieder auffordert, einen penultimo, einen vorletzten Schluck also vom Pisco sour zu kosten, und das so lange, bis der Tod – im Trinken ungeübt – seinen Auftrag vergisst und einschläft, als das vom Riesen in einem beinahe rituellen Prozedere fertiggestellte Gebräu samt Gläsern und Flasche auf dem betonierten Boden des Gastgartens aufschlägt. Wieder sind alle Blicke auf den Riesen gerichtet, der – ohne Anstalten zu machen, sich nach den Scherben zu bücken – sein Gegenüber darüber aufklärt, dass dies der Polyneuropathie geschuldet sei, einem Taubheitsgefühl in Armen und Beinen.
Die Feinabstimmung der Handbewegungen und die Greiffähigkeit hat spürbar nachgelassen, sagt er. Vor wenigen Tagen erst hat mein Ringfinger genäht werden müssen, weil mir beim Abspülen ein Weinglas geborsten ist. Bersten – barst – geborsten? Stimmt doch, oder? Wenigstens lässt mich mein Gedächtnis noch nicht im Stich. Obwohl. In letzter Zeit fehlen mir manchmal bestimmte Wörter, die ich umständlich mit anderen umschreiben muss, um mich in Gesprächen verständlich zu machen.
Das kenne ich, sagt Marcus. Das sind Wortfindungsstörungen.
Oh, das ist ein schönes Wort. Das muss ich mir merken, sagt der Riese, zückt einen Schreibblock aus seiner Tasche, befeuchtet einen Bleistift mit seiner Zunge und schreibt: Wortfindungsstörung.
Die Unterhaltung mäandert zwischen tagespolitischen Themen – Gaza, Ukraine, Biden vs. Trump – bis eines gefunden wird, das beide zum Nachdenken über sich selbst einlädt. Marcus nämlich beklagt, dass er nichts gefunden habe, von dem er so besessen sein könne, wie es zum Beispiel seine Lebensgefährtin ist, die seit Jahrzehnten sich mit Ketten und Kettengliedern, Materialbeschaffenheit, Form- und Farbgebung, aber auch ganz allgemein mit Schmuckkunst auseinandersetzt, sein Bruder, der auf der Suche nach Felsbildern die Landschaft in den Anden kartografiert, seine Schwester, die in der Malerei ihre Erfüllung findet, und sein Freund, der Riese, diese in der Naturfotografie, wenn ihm nach stundenlangem Stillsitzen in der Au die Aufnahme sich paarender Libellen gelingt, während er aus lauter Verlegenheit einmal Collagen, dann wieder Hörstücke mache und dazwischen versuche, eine Kurzgeschichte zu schreiben.
Der Kellner kommt und klaubt die Scherben auf. Dabei stellt er sich so an, dass die Gäste nicht länger zuschauen, sondern ihm helfen wollen.
Besessenheit gefällt mir nicht, meint der Riese. Gibt es einen anderen Begriff? Leidenschaft vielleicht? Aber gehört Leiden wirklich zum kreativen Schaffen? Ist das nicht ein überholtes Konzept?
Ohne Disziplin geht gar nichts. Konzentration gehört auch dazu, mischt sich der Kellner ein.
Ja, Sie haben recht, nimmt der Riese den Ball auf: Fokussiert sein. Alles rundherum ausblenden können.
Vereinnahmt sein von etwas, wirft Marcus ein. Vielleicht trifft es das?
Oh ja! Sagt der Riese. Das ist gut. Das gefällt mir. Vereinnahmt werden, vereinnahmt sein von etwas.
Wieder zückt er seinen Notizblock, befeuchtet einen Bleistift mit der Zunge und schreibt: Vereinnahmt sein von etwas.
Der Kellner hat die Schaufel mit den Scherben in der Hand und schaut dem Riesen über die Schulter: Vereinnahmt werden von etwas gefällt mir, aber es gibt noch zutreffendere Synonyme, wenn sie gestatten: Sich einer Sache völlig hingeben oder in etwas aufgehen oder von einer inneren Begeisterung getrieben sein oder eine Sache mit Enthusiasmus verfolgen… Während er die Synonyme mit seiner ausdruckslosen Stimme herunterbetet, kippt er – nach völligem Verlust der Körperkontrolle – die auf der Schaufel liegenden Scherben dem Riesen über Kopf, Hals und Schultern. Der springt auf und will ihm an die Gurgel, als der Besitzer des Gastgartens – aufgeschreckt durch den entstandenen Tumult – auf sie zueilt und mit Remote Control gerade noch verhindern kann, dass der Riese vom stählernen Klammergriff des Roboters erwürgt wird.
Ja. Der Kellner ist ein Roboter. Ich muss mich entschuldigen, stammelt der Mann. Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert. Ich habe mir einen humanoiden Roboter aus der letzten Generation von Tesla geleistet. Ist besser als der von Boston Robotics. Stimmt schon. Die Bewegungen könnten flüssiger sein, die Laufgeschwindigkeit höher, aber er hat mehr „Gefühl“ in den Fingern als die letzte Version. Und redegewandt ist er. Das müssen Sie zugeben. Er wurde mit Millionen Datensätzen gefüttert. Und, was das Beste ist, seine Anschaffung hat sich in wenigen Wochen amortisiert. Er spornt die anderen Kellner zu Höchstleistungen an. Machen Überstunden, ohne dafür bezahlt werden zu wollen. Auch die Krankenstände sind zurückgegangen.
Der Riese, sichtlich mitgenommen, mit Würgespuren am Hals und offenen Schnittwunden von den Scherben, faucht im derbsten Wiener Slang: Oaschloch g‘schissenes.
Der Roboterkellner erwacht zu neuem Leben, richtet sich auf und sagt zum Riesen:
Mein Herr, es ist verständlich, dass Emotionen manchmal die Überhand gewinnen. Doch ein verbaler Kontrollverlust, wie Sie ihn gerade gezeigt haben, kann nicht nur Ihnen, sondern auch anderen Schaden zufügen.
In einer zivilisierten Gesellschaft ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir unsere Worte und Handlungen im Griff behalten, um ein harmonisches Miteinander zu gewährleisten. Ihr Zorn hat hier nicht nur materielle Schäden verursacht, sondern auch die Atmosphäre für die anderen Gäste beeinträchtigt.
Bitte bedenken Sie, dass auch in herausfordernden Momenten ein kühler Kopf und eine besonnene Reaktion mehr bewirken können als unkontrollierter Zorn. Ich stehe Ihnen zur Verfügung, um Ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen, und gemeinsam können wir eine Lösung finden, die allen gerecht wird.
Lassen Sie uns diesen Vorfall als Gelegenheit sehen, über die Bedeutung von Selbstbeherrschung und respektvollem Umgang miteinander nachzudenken. So können wir gemeinsam eine angenehme und friedliche Umgebung schaffen.
Der Roboter hält kurz inne, um sicherzustellen, dass seine Worte beim Riesen angekommen sind, und fährt fort:
Ich biete Ihnen meine Hilfe an, sowohl für Ihre physischen Verletzungen als auch für eine schnelle und reibungslose Abwicklung Ihrer Bestellung. Lassen Sie uns diesen Moment nutzen, um von diesem Erlebnis zu lernen und uns auf das Positive zu konzentrieren.
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