Die Monarchin des Schweigens

Sie brauchen ein Bett. Ohne ein Bett können wir nichts machen. Für den Eingriff brauchen’s ein Bett.
Und wie komm‘ ich zu einem Bett?
Warten’s hier auf Zimmer 4. Ich lass‘ eins bringen.
Ein Mann sitzt auf einem Stuhl und stiert in ein Glas Wasser, das vor ihm auf dem Tisch steht. Dann ist er nicht mehr da und eine Frau sitzt dort, wo der Mann gesessen hat.
In Zimmer 4 sitzen jetzt 5 Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Herkunft. Drei von ihnen verlassen nacheinander den Raum.
Das ist sein dritter und sicher der letzte Versuch. Mein Mann hat die Behandlung zwei Mal schon abbrechen lassen, weil er geglaubt hat, dass er erstickt. Dabei ist das nur Einbildung. Hoffentlich klappt es heute, sagt sie.
P. geht hinaus in den Gang und hält Ausschau nach jemandem, der ihm das Bett bringt. Aber der Gang ist verwaist.
Zurück im Warteraum, beginnt sein Kopfkinodialog. Augmented reality ohne Brille:
Ich bin die Monarchin des Schweigens, erklärt sie, und gehe als mein Avatar.
Das kann ich auch, sagt er. Ich bin ein Matrose. Sehen Sie? Die abwaschbare Schwalbe, die ich mir auf den Handrücken tätowieren hab lassen, bringt die Seelen Ertrinkender in den Himmel.
Darauf antwortet sie mit unverhohlener Aggression in ihrer Stimme, indem sie sich mitten im Satz von ihrem Platz erhebt und ihm mit dem Zeigefinger droht: Wollen Sie etwa als Simulation weiterleben?
Die Frau hat das Zimmer schon vor einer Weile verlassen. Wie lange ist das her? Ob es ihr Mann diesmal geschafft hat? P. hat schon befürchtet, vergessen worden zu sein. Endlich hat das Warten, das er sich durch diesen luziden Wachtraum zu verkürzen versucht hat, ein Ende. Es ist so weit. Das Bett ist da. Ein stiernackiger Mann mit Glatze befiehlt ihm, auf dem Bett Platz zu nehmen.
Ich kann aber gehen, sagt P.
Nein, sie können nix gehen, sagt der Pfleger. Sie legen sich jetzt hin.
Er scheint keinen Widerspruch zu dulden. Ihm die Arbeit zu erleichtern, legt P. sich in Straßenkleidung und Schuhen auf das fahrbare Spitalsbett und lässt sich durch die labyrinthischen Gänge eines 24-stöckigen Turmes schieben, während der Schiebende sich in Rage redet:
Die reden nicht mit mir. Halten sich für was Besseres. Ich warte auf 14e und keiner sagt mir, dass sie schon fertig zum Abholen sind. Wir sind nur vier. Es muss ja gespart werden. Von denen da oben soll mir mal einer in die Finger kommen. Ich würd‘ ihn einfach liegen lassen, damit er weiß, wie sich das anfühlt, wenn man vergessen wird oder glaubt, dass man vergessen worden ist. Der soll das am eigenen Leib erfahren, was er angerichtet hat. 4 für 1800 Betten. Aber so einer kann sich’s ja richten. Der hat sicher einen privaten Pfleger, der ihn von da nach dort bringt und wieder zurück von A nach B. Alles ein Wahnsinn.
Heute Morgen. Meine Tochter. Meine Tochter, 14, ich krieg jetzt noch – aber ich sollt‘ mich nicht aufregen –. Wie soll das gehen? Sich nicht aufregen, wenn deine Tochter einfach vergisst, dass‘d in die Arbeit musst. Und warum muss ich Überstunden machen? Das sollt‘ ich sie mal fragen. Ob sie’s weiß?
Die Frage ist nicht an P. gerichtet. Jetzt wäre er fast mit einem anderen Pfleger kollidiert, der auch ein Bett vor sich herschiebt, in dem ein Patient liegt.
Hab’s nach der Nachtschicht einkaufen g’schickt; kommt und kommt nicht daher, weil’s mit der Freundin hat plaudern müssen. Und ich ohne Frühstück in die Arbeit.
Der Raum ist dunkel, in den er ihn hineingeschoben hat. Rechts ein Mann in einem weißen Kittel, der vor einem Monitor sitzt und sich ihm jetzt zuwendet. An der Stirnseite des fensterlosen Raumes kann er eine kleine Frau ausmachen, die auch einen weißen Kittel hat.
Legen Sie das künstliche Gebiss hier auf den Teller, sagt sie.
Er war darauf vorbereitet. Darauf aber nicht: Name, Geburtsdatum! fragt sie in einem Ton, den er von der Zeit kennt, in welcher er zum Gebirgsjäger ausgebildet worden war.
Er lallt und stammelt, versucht sich zu artikulieren, kann sich aber kaum verständlich machen.
Verdammt. Warum fragt sie mich das jetzt, nachdem ich kein Gebiss mehr habe? Das ist demütigend. Das alles würde er gerne sagen, ist dazu aber nicht in der Lage.
Legen Sie sich seitwärts hin, befiehlt sie jetzt, und stopft ihm einen Beißring in den zahnlosen Rachen. In diesem Augenblick betreten 5 junge Frauen das Zimmer, Azubis (Auszubildende) in blauen Kitteln, die zuschauen wollen. Das hat ihm noch gefehlt: Schaut aus wie Hannibal Dexter in Schweigen der Lämmer. Das denken sie. P. kann es von ihren Augen ablesen.
Endlich bekommt er das Sedativ. Er schließt die Augen.
Schlucken! befiehlt sie. Der Schlauch wird in den Rachenraum eingeführt und in die Speiseröhre geschoben.
Schlucken! wiederholt sie.
Das Betäubungsmittel hat zu wirken begonnen. Mittlerweile sind ihm die jungen Frauen gleichgültig. Dann ist es überstanden.
Ich muss auf 19i, sagt er.
Danke, sagt der Krankenhausangestellte, der ihn abholt. Ich weiß. Gut, dass schon aufg’wacht sind.  Wissen’s, wie viel km ich geh am Tag? Ich hab einen Schrittmesser. Gestern im Nachtdienst über 30 km… Das ist von da bis nach Mauerbach. Nur Kellner geh’n mehr. Meine Frau will, dass ich zum Orthopäden geh‘… Du stinkst, sagt’s, wenn ich heim komm‘. Du stinkst nach Spital. Nach Desinfektion. Kein‘ Kuss. Nichts. Nur: Du stinkst. Mir reicht das Ganze bis daher. Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie. Ich glaub, ich werd‘ kündigen. Da fahr ich lieber Taxi, als halbtote Patienten durch die Gäng‘ schieben. Na, Sie mein‘ ich nicht.
P. befindet sich in einem Zustand, wo einer nicht mehr träumt, aber noch nicht weiß, ob er schon wach ist. Der Roboter, nicht Mensch, aber auch nicht Maschine, scheint in einer emotionalen Verfassung, die es ihm kaum erlaubt, die Aufgabe, für die er programmiert ist, zu erfüllen.
Vielleicht sollte ich doch in der Simulation bleiben? fragt sich P. und ruft sich die Monarchin des Schweigens in Erinnerung. Hätte er besser nicht getan: Warum hast du mich verlassen? herrscht sie ihn an. Weißt du, was ich durchgemacht habe?
Ihre Haltung ist aufrecht und stolz, und sie bewegt sich mit einer Eleganz, die ihre königliche Herkunft verrät. Ich will es mich nicht mit ihr anlegen. Was für eine Erscheinung. Sie hat keine Augenbrauen, stelle ich fest. Die sind aufgemalt. Auch der Mund, die Nase und die Augen. P. könne schreiben, meint Copilot: Ihr Haar ist lang und fließt wie ein Wasserfall in einem tiefen Schwarz über ihre Schultern. P. hält das für Kitsch und lässt das mit den Haaren. Das ist ihm zu weit hergeholt.
Das Einzelzimmer auf der Isolierstation hat zwei Fenster mit Sicht vom 19igsten Stock auf den Westen der Stadt. Die Schwester aus Persien, deren Mann es ihr erlaubt, hier zu arbeiten, um ihn und die Kinder zu ernähren, zapft ihm Blut ab und bittet die Monarchin endlich zu schweigen, solange sie im Zimmer ist. Dabei hat sie gar nichts gesagt. Sie kann gar nichts gesagt haben, sagt P. Sie heißt nicht umsonst Monarchin des Schweigens.
Ich nix verstehen, sagt die Schwester aus Persien und geht aus dem Zimmer.
P. ist froh, dass er wieder allein ist. Mit. Ihr. Der Monarchin. Niemand, der seine Dialoge im Kopfkino stört.
Er träumt, dass er endlich in einen tiefen Schlaf gefallen ist.

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