Mit 150 in die Vergangenheit

Ich nehme den Highway. Das klingt cooler als Autobahn. Highway: Das hat was von Amerika, von versprochener Freiheit, von in einer Verfassung verankertem persuit of happyness, von Steppenwolf und Easy-Rider Romantik. Aber Amerika ist auch nicht mehr, was es einmal war.
Ich möchte hier raus. Nur weg. Jetzt, wo mir der Fahrtwind vom Seitenfenster um die Ohren knattert und die Klarinette des Anouar Brahem Trios sich in Halbtönen und orientalischen Halbtonschritten immer weiter von der Oud trennt, geht es mir besser. Es war genau diese Passage, die in einem Konzert vor wenigen Wochen diese nicht mehr zu stillende Sehnsucht nach Aufbruch, dieses Heimweh nach Nirgendwo ausgelöst hatte. Die Stimmung im Land war ja schon vor den Wahlen mies. Aber jetzt nach diesem Sonntag, wo die Hälfte meiner wahlberechtigten Mitbürger die Zukunft abgewählt hat, hält mich nichts mehr.  Dass ich den Mut aufgebracht habe und nun tatsächlich auf dem Weg bin, überrascht mich im Augenblick ebenso, wie es wohl alle die überraschen wird, die ich zurückließ. Während ich mir eine Zigarette anzünde, nachdem ich eine vergessene Packung im Handschuhfach gefunden habe, stelle ich mir ihre Gesichter vor: vor allem die meiner Arbeitskollegen und meines Chefs, wenn ich sie mit Ansichtskarten grüßen lasse.  Nein: Ich werde keine schreiben. Das ist zu retro. Ich werde meinem Chef ausrichten lassen, dass er auf meine werte Mitarbeit verzichten wird müssen. Ich werde alle Brücken hinter mir abreißen.
Eine Meldestelle für linke Lehrer? Ja, haben die nicht mehr alle? Auch die Menschenrechte sollen aufgehoben werden? Das schaut nach Projekt 2025 aus. Das Akronym MAGA muss gar nicht erst adaptiert werden: Make Austria great again! Das Projekt ist in Amerika schon weit gediehen. Rollkommandos deportieren in Ketten gelegte Immigranten in Internierungslager.
Das sind meine Gedanken, während ich mit einer Hand das Lenkrad festhalte, mit der anderen lässig an der Zigarette ziehe und die Asche vom Fahrtwind aus dem Fenster blasen lasse.
Endlich liegen die trostlosen Vorortesiedlungen mit ihren bienenstockartig angelegten Wohnbauten hinter mir. Hinter mir auch die schnell hingeklotzten Industrieanlagen und Großmärkte; endlich. Auf den Horizont zuhalten.
Die Tachonadel bleibt konstant auf etwas über der empfohlenen Höchstgeschwindigkeit. Nur jetzt keine Fahrzeugkontrolle. Dann wäre es aus. Ich hätte auch in einen Zug einsteigen können. Aber mit einem Zug flieht man nicht. In einen Zug steigen heißt, einen Bahnhof wählen, eine Karte kaufen, ein Ziel haben, von Ankunfts- und Abfahrtszeiten abhängen; heißt: nicht mehr wirklich frei sein. Wirklich frei? Wovon eigentlich?
Was? Das kann jetzt aber nicht sein. Was ist das? Eine Kelle mit einem Stoppzeichen. Meint er mich? Ja, wen denn sonst? Ein Blick in den Rückspiegel versichert mir, dass ich allein auf weiter Flur bin, ich das Auto vor mir aber, das mich eben überholt hat, nicht geträumt habe. Mein erster Impuls ist, Gas zu geben. Aber was soll das bringen? Haben sicher mit der Lenkererhebung schon begonnen. Würde alles nur schlimmer machen. Bin ja kein Halbwüchsiger, der sich ohne Führerschein das Auto vom Papa ausgeborgt hat.
Was jetzt kommt, ist in seinem Ablauf nicht nur vorhersehbar, es ist ein Prozess, der in kleinen Zeiteinheiten abgearbeitet wird. Zuerst die Papiere. Dann aussteigen. Den Kofferraum öffnen. Alles nicht so schlimm wie in Amerika. Da würde ich jetzt schon breitbeinig und mit dem auf dem Rücken verschränkten Händen das kalte Eisen der ins Fleisch schneidenden Fesseln spüren. Wie bin ich froh, dass ich jetzt nicht auf einem Highway in Texas unterwegs bin, sondern auf einer Autobahn meines geliebten Heimatlandes, dessen Volk – immerhin 30% Unbelehrbare – sich gestern zum Werkzeug ihres Chefs machen ließ. Was den Sonntag hier zu einem Sonntag macht, ist seines Volkes Niedertracht, hab‘ ich irgendwo gelesen. Und von Karl Kraus selig weiß ich, dass Österreich das Land ist, in welchem man aus Erfahrung dümmer wird.
Kann froh sein, dass mir nicht der Führerschein abgenommen worden ist. Dabei waren es nur 50 km über der empfohlenen Geschwindigkeit, die Messtoleranz von 5 km schon eingerechnet. Anzeige. Stand nicht im Wahlprogramm, dass sie 150 h/km auf Autobahnen zulassen wollen? Mit Vollgas in die Vergangenheit sozusagen?
Wie dem auch sei. Das war’s mit meiner versuchten Flucht. Wohin aber hätte ich denn fliehen sollen? Nach Orbistan, in die Slowakei, in den Osten Deutschlands, nach Amerika gar? Vom Regen in die Traufe wäre ich gekommen. Was für eine Schnapsidee. Was soll ich dort? Um Asyl ansuchen?
Grund?
Der Volkskanzler hat eine Meldestelle für linke Lehrer einrichten lassen. Eine Art Lehrerpranger.
Und?
Ja, ich bin Lehrer.
Ein Linker?
Ein Linker. Ein Linker. In meiner Heimat ist man schon ein Linker, wenn man sagt, dass nicht alle Ausländer kriminell sind.
So so. Also ein Aufenthaltsrecht wollen’s? Schon einmal was von Remigration g’hört?
Ich seh‘ schon. Das wird nichts. Weder kann ich slowakisch noch ungarisch. Französisch versteh ich. Nicht alles. Viel nicht. Und reden? Noch weniger.
Vielleicht sollte ich mich schnell auf den Weg zurück machen und beim Direktor mich für das verspätete Eintreffen am Arbeitsplatz entschuldigen, ihm anbieten, die Stunden einzuarbeiten. Man wird ja noch träumen dürfen. Wenigstens das. Aber ist nicht Sonntag heute und hat nicht der Volxkanzler die Verhandlungen abgebrochen, weil er es auf Neuwahlen angelegt hat; und das in der Hoffnung, mit einer Absoluten auf keinen Koalitionspartner mehr angewiesen zu sein?

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