
12 Mai Tod dem Faktischen
Hallo Papa
Weißt du eigentlich, dass es mich gibt? Dass du eine Tochter hast? Ich bin heute sechszehn geworden. Ich habe meine Mutter getroffen. Sie hasst dich noch immer. Wenn ich sie mir so anschaue, denke ich mir, dass es gut war, in einem Heim aufzuwachsen und nicht bei ihr. Vielleicht ist es auch gut, dass ich dich nicht kennengelernt habe. Aber ich frage mich oft, wie es gewesen wäre, wenn ich eine Familie gehabt hätte. Ihr beide habt mich zurückgelassen. Wenn du wenigstens einmal versucht hättest, mit mir Kontakt aufzunehmen. Aber nichts. Gar nichts kam von dir. Wahrscheinlich weißt du nicht einmal, dass es mich gibt. Stimmt es, dass du abgehauen bist, wie du erfahren hast, dass Mama mit mir schwanger war? Das könnte ich dir nie verzeihen. Andererseits möchte ich dich wirklich einmal kennenlernen. Ich würde zu gerne wissen wollen, wie du aussiehst, aber vielleicht kommt ja mal die Zeit und wir treffen uns zufällig auf der Straße, dann könnten wir miteinander fortgehen…
An diesen Brief muss Michaela denken, als sie am Bett des Mannes steht, der sie nun fragend anblickt. Wie oft hat sie sich bei Männern – in der Straßenbahn, in Geschäften, in der Schule, im Heim – gefragt, wie es wäre, wenn sich herausstellt, dass es ihr Vater sei. Bei manchen hat sie es sich heimlich gewünscht, bei anderen hat sie sich gedacht: „Lieber keinen Vater als einen solchen.“
Ein Hubschrauber kreist knatternd über den Dächern auf der Suche nach einem Landeplatz. Der Lärm hat die Vögel stummgemacht. Fenster werden geöffnet. Eines rahmt eine alte Frau. Sie lehnt mit gekreuzten Armen auf dem Sims und begrüßt die Abwechslung in ihrem an Ereignissen armen Leben. Von weitem sind die Sirenen eines herannahenden Rettungsfahrzeuges zu hören. Unten auf der Straße zwei ineinander verkeilte Fahrzeuge. Kein Mensch weit und breit. Nur eine Frau. Sie trägt ein Kleid mit Blumenmuster: Pfingstrosen auf schwarzem Grund. Sie steht auf der Straße, bewegungslos, schaut dem Hubschrauber nach und lacht. Es ist ein irrwitziges Lachen.
Gerade eben noch war die Welt in Ordnung. Tausend Gedanken schießen ihr durch den Kopf, gleichzeitig, bis es Tilt macht und sie sich vorkommt, wie in einem Film, der sie am Straßenrand zeigt auf das Geschehen blickend, als ginge es sie nichts an. Ein Filmriss. Eine Spule, die durch Überhitzung in Brand geraten ist, um ein Bild zu bemühen, das noch aus der Zeit des Analogen stammt.
Über einem der Fahrzeuge hängt eine Fahne schwarzen Rauchs. Er kommt aus der Motorhaube des Fahrzeugs, das sie gerammt hat, weil sie damit beschäftigt war, eine Biene aus dem Innenraum ihres Autos zu verscheuchen. Der Fahrer liegt mit dem Kopf über dem Steuer, als würde er ein Nickerchen halten. Seine Stirn, über die das Blut rinnt, liegt auf dem Knopf der Hupe. Es ist ein langgezogener Ton, der auf einer der schwarzen Tasten liegen muss. Möglicherweise auf einer Skala zwischen CIS und FIS. Alle Geräusche zusammen erinnern mit ihren eingefrorenen Wiederholungen an ein musikalisches Pattern aus einer Oper von Glass. Der Himmel ist blau, der Asphalt der Straße grauschwarz mit Einsprengungen von weißen Kieseln, die wie Diamanten in der Sonne glitzern, denn es hat geregnet. Aber vielleicht sind es Glassplitter, die von zerbrochenen Scheiben herrühren. Auf der Hauswand gegenüber ein Grafitti: Tod dem Faktischen!
Michaela steht noch immer da und hofft, dass sie aus ihrem Alb erwacht. Die Polizei und die Rettung sind eingetroffen: Geschäftiges Treiben. Die Straße wird abgesperrt, Schaulustige werden zurückgedrängt; Sanitäter tragen eine Bahre. Sie haben den Mann aus dem Auto befreit. Eine Polizistin beginnt mit dem Protokoll des Unfallhergangs. Ihr Kollege malt mit Kreide Markierungen auf den Asphalt.
Michaela beschreibt in knappen Worten, wie es aus ihrer Sicht zum Zusammen-stoß der beiden Fahrzeuge gekommen ist, gesteht ein, dass auch sie Schuld hat. Die Polizistin legt ihr die Hand auf die Schulter und sagt: Keine Aussagen zum Unfallhergang jetzt, die sie bereuen könnten. Sie bluten an der Stirn. Könnte eine Gehirnerschütterung sein. Ich rate ihnen, ins Spital zu gehen.
Da es nur ein Unfallkrankenhaus gibt, war es leicht, das Unfallopfer ausfindig zu machen. Um an sein Bett zu dürfen, hat sie sich als eine Verwandte des Patienten ausgegeben. Es wurde nicht weiter nachgefragt, in welchem Verhältnis sie zu ihm stehe, da sie beide den gleichen Familiennamen haben. Müller gab es Tausende in dieser und sicherlich in anderen Städten, in denen Deutsch gesprochen wird.
Der Mann, der da vor ihr auf dem Krankenhausbett lag und an einem Tropf hing, schien es schlechter zu gehen, als sie angenommen hat. Schädel-Hirn-Trauma mit inneren Blutungen. Sein Kopf war mit einem Verband über dem Kinn fixiert und ließ, da auch die Nase gebrochen war, nur Mund und Augen frei. Auch wenn es nur der Ausschnitt eines Gesichtes war, es erinnerte sie an ein Foto. Sie hatte es in ihrer Hosentasche mit sich herumgetragen zwischen Münzen, Fahrkarten, Kassenbons, Haarklammern, Labello und verklebten Bonbons. Solange, bis es ihre Mutter entdeckt hat. Es war das Foto ihres Vaters, das sie aus einem Album gerettet hat. Natürlich hat Mutter es zerstört. Sie sollte sich kein Bild von ihm machen. Hatte er sie doch verlassen und sich nie wieder gerührt. Angeblich sie verlassen, als sie noch mit ihr schwanger war. Aber den Brief, den sie ihm geschrieben hat zu ihrem vierzehnten Geburtstag, den hatte sie noch. Der sollte sie jeden Tag daran erinnern, dass sie keinen Vater hatte und nie einen haben würde.
Der Mann winkt sie zu sich heran. Um ihn besser zu verstehen, beugt sie sich zu ihm hinunter. Es sind nur gegurgelte Laute, die keinen Sinn ergeben, da kann sie sich anstrengen, wie sie will. Irgendwas mit Schwester, aber Michaela war sich nicht sicher. Er greift nach ihrer Hand. Drückt sie, lässt sie nicht mehr los, schließt die Augen. Sein Atem rasselt. Wasser in der Lunge. Sie verspricht, am nächsten Tag wieder zu kommen. Noch kann sie sich nicht entschließen zu gehen. Eine Frage brennt ihr auf den Lippen: Haben Sie eine Tochter? Aber sie fragt nicht.
Die Krankenschwester kommt ins Zimmer, sagt, dass die Zeit um sei. Morgen, denkt sie. Morgen werde ich wieder kommen und …
Als sie am nächsten Tag wiederkommt, lernt sie seine Tochter kennen. Sie will wissen, wer sie ist und warum sie ihren Vater besucht. Michaela gesteht, dass sie am Unfall beteiligt und schuld war. Statt sie alles Mögliche zu schimpfen, wie sie es erwartet hat, sagt sie, ohne darauf einzugehen: Vor einem halben Jahr ist bei meinem Vater Darmkrebs im vierten Stadium festgestellt worden. Er hat eine Chemotherapie abgelehnt. Er hat gewusst, dass er nicht mehr lange leben würde.
Michaela besucht ihn nun täglich, weniger aus Schuldgefühlen, sondern vor allem, nachdem sie erfahren hat, dass er ein Leben lang versucht habe, mit seiner Tochter Kontakt aufzunehmen. Alle Briefe, die er ihr geschrieben hat, erzählt sie, sind wieder zurückgekommen. Ich glaube, dass ihn das gebrochen hat. So viel Zeit, die uns verlorengegangen ist, weil meine Mutter nicht wollte, dass ich Kontakt zu ihm habe. Vergiss ihn! hat sie gesagt. Er hat sich nie um dich gekümmert. An keinem deiner Geburtstage. Weder eine Karte noch ein Anruf. Nichts. Vergiss ihn!
Ich habe die Briefe gefunden. Gebündelt lagen sie in einer Schachtel. Sie zu entsorgen, hat sie sich doch nicht getraut. Nachdem ich sie mit meinem Fund konfrontiert hab‘, hat sie nur mit der Achsel gezuckt. Mehr nicht. Miststück! hab‘ ich zu ihr gesagt. Warum hast du mich glauben lassen, dass er mich vergessen hat? Warum hast du das gemacht?
Jetzt sitzt Michaela da und weint. Nicht, weil sie ihren Vater verloren hat, als sie dabei war, ihn kennenzulernen, nein: Sie weint, weil die Briefe nicht an sie adressiert waren, sondern an eine andere Tochter, die sie aber hätte sein können.
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