Das Tattoo

diezungeAuf der Rolltreppe sah ich eine junge Frau, die anstelle einer Halskette einen mit schwarzer Tinte tätowierten Schriftzug mit arabischen Zeichen trug. Genau über dem linken Schlüsselbein, weiter gegen die Pfanne des Oberarmknochens zu, und weniger dort, wo es in das Brustbein übergeht. Jedenfalls so angebracht, dass es der dünnen Haut wegen wie auf den Knochen geschrieben aussah und gut lesbar war, aber für mich, – eines der arabischen Schrift Unkundigen -,  nicht deutbar.
Wollte sie angesprochen werden? Wollte sie, dass nachgefragt würde, was dieser Schriftzug zu bedeuten hat? Dem widersprach, dass in der kalten Jahreszeit ihn nur wenige zu Gesicht bekommen würden, falls sie nicht einen Pullover mit U-Bootausschnitt trägt, der, wie ich hörte, den Frauen empfohlen wird, die breite Schultern oder einen kurzen Hals haben.  Wenn sie es also darauf angelegt hätte, über diese kryptischen Zeichen in Kontakt mit neugierigen Menschen zu kommen, blieben ihr nach meiner Rechnung nur 6 Monate und in dieser Zeitspanne auch nur die nicht regnerischen Tage, und es wäre natürlich nur unter der Voraussetzung möglich, dass sie sich außer Haus begibt. Nein: Ich glaube nicht, dass sie damit provozieren oder zum Fragen herausfordern wollte. Ich tat es trotzdem, ganz gegen meine mir anerzogene Scheu, einen wildfremden Menschen (und dazu noch eine Frau) auf der Straße oder – wie eben jetzt – auf einer Rolltreppe anzusprechen, weil ich meine Neugier nicht besiegen konnte, oder –  einem Impuls folgend – einmal der Neugier gegenüber der mir anerzogenen Scheu die Oberhand gewinnen lassen wollte. Denn größer war die Gefahr nicht, als einen kurzen Blick zu ernten, den ich mit „Lassmichbitteschöninruhe“ übersetzen hätte können.

Der Impuls aber zu meiner Dreistigkeit, die junge Frau zu fragen, was die Zeichen zu bedeuten haben, hat eine Vorgeschichte. Auf der Fahrt in die Stadt nämlich sah ich in der U-Bahn eine andere Frau, die sich auch einen Sinnspruch über beide Schlüsselbeine tätowieren hat lassen, von dem ich allerdings nur zwei Wörter entziffern konnte, die diesmal in lateinischer Schrift und auf Englisch zu lesen waren. Das Dekolleté war unterhalb dieser halbförmig angeordneten, aber durch zwei schwere Halsketten nicht mehr lesbaren Schriftzeichen, mit einem kunstvoll tätowierten Blumenornament geschmückt. Während ich noch gerätselt habe, was wild quats bedeutet und ich schon nahe daran war, sie zu fragen, da sie mir – an der neben der Tür angebrachten Stange mit mir Halt suchend – auf Augenhöhe gegenüber stand, war der Zug schon in die Station eingelaufen und ich musste aussteigen. Das sollte mir jetzt auf dem Heimweg nicht wieder passieren, dachte ich mir, als ich die junge Frau mit dem Tattoo sah. Diesmal wollte ich wissen , was es mit den kryptischen Zeichen auf sich hat.  Aber der Reihe nach. Ich muss es anders erzählen. Bevor ich nämlich sie fragen wollte, geschah etwas auf der zweiten Ebene des U_Bahnschachtes, das – wenn  ich es mir recht überlege, zwar nicht die Antwort vorwegnahm, aber unterstrich, dass  ihr Leben tatsächlich von dem auf ihr Schlüsselbein tätowierten Motto angeleitet war.

Auf dieser zwar hellen, aber vom Tageslicht unberührten zweiten Ebene nämlich, wo es neben den die Stiegen oder Rolltreppen hinauf-  oder hinuntereilenden Menschen nichts gibt, was einen zum Verweilen einladen könnte, war zwischen einem jungen Paar eben ein heftiger Streit ausgebrochen, der sein abruptes Ende darin fand, dass das Mädchen heulend davon lief, wobei sie den schwarzafrikanischen Augustinverkäufer beinahe umgerannt hätte, während der Bursche  fassungslos dastand und ihr bewegungslos nachstarrte. Ich wäre weiter gegangen, hätte ihn vielleicht bemitleidet oder mir gedacht, dass er es wohl verdient haben wird, dass sie ihm davon gelaufen ist, und mich nicht eingemischt. Nicht so die junge Frau, die mit mir die Rolltreppe hinauf gefahren ist. Sie mischte sich ein und sagt zu dem noch immer wie gelähmten Burschen, dessen junge Mutter sie hätte sein können, im schönsten und reinsten Wiener Dialekt: Was schtehst no länger rum, wia de Butta in da Sunn. Wülst es, oda wülst es net.  Wenn jo, dann renn!

Und tatsächlich, – als hätte es genau dieser klaren Ansage bedurft -, macht der Junge auf dem Absatz kehrt  und rennt, wie von Furien gehetzt, seiner Lady hinterher, vorbei am Inder, der teilnahmslos dasitzt und die vor ihm ausgebreiteten Zeitungen bewacht, an denen die meisten achtlos vorübergehen, um sich eine Gratiszeitung zu schnappen.

Ich war grenzenlos beeindruckt. Auch vom Reim, der ihr so spontan von den Lippen gekommen war. Auf der Rolltreppe, die uns auf Straßenniveau bringt, drehe ich mich nach der Frau um, und habe endlich den Mut zu fragen, ob ich fragen darf, was die auf die dünne Haut tätowierte Schrift bedeute. Das bedeutet, meint sie lachend in gepflegter Hochsprache: Die Zunge ist die Übersetzerin des Herzens.  

Ihr das zu glauben, fiel mir nicht schwer und ich habe es für einen kurzen Moment bedauert, dass ich für mein Leben keinen Leitspruch gefunden hatte, den ich mir als Mahnung oder Erinnerung auf die alt und faltig werdende Haut hätte brennen lassen wollen, so einen Leitspruch, der mir geholfen hätte, mein Handeln auf ihn abzustimmen. Ich tröste mich mit einem anderen Sinnspruch: Auf heiler Haut ist gut schlafen.

 

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