Berlin: permanent transition

Sieben Tage Berlin mit vielen Streifzügen, einem Ausflug nach Potsdam und einer Bootsfahrt auf der Spree. Müsste ich Berlin in Farben beschreiben, würde mir bunt einfallen, auch wenn es keine Farbe ist. Wären es Töne, dann schrill. Wenn ich die Stadt mit Wien vergleichen müsste und wäre Sommelier, dann ist Berlin ein Wein mit deutlich herber Geschmacksausrichtung und Wien ein eher süßlicher. Als letzte, aber alles umfassende Eigenschaft, würde mir anarchisch einfallen, wenn ich das bunte Nebeneinander von alt und neu, schön und abgrundtief hässlich, arm und reich, klotzig, protzig, repräsentativ und unprätentiös, auf ein Wort reduzieren will.

P1130266Keine Stadt Europas ist so durchmischt und hat mehr als die Hälfte Einwohner, die erst vor 20 Jahren zugezogen sind. Trotz der vielen Wasserwege, Kanäle, Schleusen und Brücken ist es kein Venedig des Nordens, wie man etwa Stockholm oder Amsterdam rühmt. Trotzdem kann sich wohl kein Besucher seines herben Charmes entziehen. Berlin ist eine vernarbte, scarifizierte Stadt: zerbombt, geteilt wieder aufgebaut und  wieder vereinigt. Jeder, der dort wohnt, hat trotz der oft kühn anmutenden Verbauung des breiten Todesstreifens mit seinen über 300 Wachttürmen, Bunkeranlagen und der fast 4m hohen und 43 km langen Mauer, von der nur noch wenige Meter als Mahnmal stehen, die Grenze zwischen West und Ost im Kopf. Viele sogar ihre Topografie, noch bevor sie die Stadt aufgesucht haben. Namen wie Wedding, Moabit oder Pankow, Landwehrkanal, Kreuzberg, Potsdamer Platz, Alexanderplatz, Bahnhof Zoo, erinnern mich an Gelesenes, Gehörtes und Gesehenes aus P1130405Büchern, Liedern und Filmen. An die Märzrevolution 1848, an das Scheitern der Weimarer Republik, an Hitlers Machtergreifung 1933 und seinen Selbstmord im sogenannten Führerbunker, der von den Amerikanern gesprengt worden ist. Christiane F. zB., die mit der Autobiografie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu einer Symbolfigur für die drogengeprägte Jugendkultur der Siebziger wurde, Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“,  Udo P1130348Lindenberg mit seinem an Erich Honecker gerichteten „Sonderzug nach Pankow“ und Wolf Biermann fallen mir ein. Auch auf dem Gelände der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße, wo sich das Naziheadquarter mit der berüchtigten Gestapozentrale befand, auf Schritt und Tritt Geschichte und der gelungene Versuch von Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit Nazivergangenheit heute durch großflächige Mahnmale, Dauerausstellungen und vorbildliche Dokumentations-zentren, die mich als Österreicher beschämen, da wir Vergleichbares kaum vorzuweisen haben.

P1130808In einer Seitenstraße entdecken wir den letzten Wachtturm, welcher der Bauwut im ehemaligen Todesstreifen noch nicht zum Opfer gefallen ist. 3 junge Männer haben sich zusammengetan, um diesen Turm als Denkmal an die unselige Teilung der Stadt vor Abriss und Zerfall zu retten. Kaum mehr Brachen und unbebaute Flächen, welche die Architekten zu städtebaulichen Éxperimenten herausfordern, wie noch vor 15 Jahren, aber immer noch Kräne: Zeugen nicht abgeschlossener Bauvorhaben. Eine Stadt im permanenten Übergang. P1130284Die Gentrifizierung von ganzen Stadtteilen und ehemaligen Arbeiterbezirken wie Friedrichshain, Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Neukölln schreitet voran. Während der Szenekietz Prenzlauer Berg zu einem Altersheim mutiert, ist der Kinderboom in den weniger sexy Wohngegenden nicht zu übersehen. Die Wohnungsnot ist groß und die Mieten steigen.
Ein letzter Vergleich: Berlin ist eine Mischung aus Rottweiler und Spaniel. Wien eine aus Schnauzer und Spaniel. Ich hoffe, mir wird verziehen.

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