10 Okt Bangkok
Immer wieder verblüfft mich von Neuem, wieviel Welt es gibt außerhalb der mir vertrauten, wieviel „wechselnde Unermesslichkeit des Lebens“ (Joseph Conrad) Abgeschnitten vom Verständnis einer fremden Umwelt, für deren Codes mir die Schlüssel fehlen, bin ich mir am nächsten.
Ohne auch nur das Geringste mir an Vorwissen über Thailand, seiner Geografie, Geschichte, Sprache und Kultur im Vorfeld der Reise angeeignet zu haben, lasse ich den Schock, mit dem mich das von Smog, Lärm und Beton eingemantelte Bangkok mit seinem exotischen Chaos empfängt, auf mich einwirken und wünschte mir, diese aus allen Nähten platzende Stadt noch zu einer Zeit besucht zu haben, in welcher sie als „Venedig des Ostens“ die Reisenden angelockt hatte.
Im Anflug auf die asiatische Metropole mit ihren 10 Millionen Einwohnern, kann man aus der Vogelperspektive erahnen, wie es einmal gewesen sein muss, als die Klongs, wie die Flüsse heißen, die sich mäandernd im südchinsischen Meer entwässern, noch Verkehrswege zwischen dem saftigen Grün von Reisanbauflächen und nicht zugeschüttet und betoniert waren, um den stetig wachsenden Verkehr aufzunehmen.
Im Flughafen selbst und auf dem Weg in die Stadt erinnern riesige Werbeflächen daran, dass ich im LOS (land of smile) gelandet bin. Auch der König „Rama IX“, um dessen Gesundheitszustand sich die „Bangkok Post“ auf der Titelseite besorgt zeigt, lächelt hoheitsvoll von meterhohen Plakatwänden. Er genießt – wie sein verstorbener Vorgänger Chulalongkon hohes Ansehen. Auch die Landeswährung „Baht“, die ich in grünen, blauen und roten Bündeln am Flughafen eingestauscht habe, zeigt ihn kurz nach der Inthronisierung. Ich werde sehr aufpassen, nicht auf einen solchen Schein zu treten, da dies als Majestätsbeleidigung aufgefasst und hart geahndet wird.
Meine Mutter hat mir noch vor der Abreise ein Merianheft über Thailand aus den 70iger Jahren zugeschickt, das ich im Flugzeug zu lesen begonnen habe. Dort wird schon damals beklagt, dass man das alte, ursprüngliche Bangkok mit den Kanälen, schwimmenden Märkten und roten, alle Häuser überragenden Tempeldächern nicht mehr finden wird, es sei denn, man wage es, – meint der Merianführer – , sich abseits der touristischen Trampelpfade nach Thonburi, ans andere Ufer des sandbraunen Maenam zu begeben, wo die Könige der Ramadynastie 1782 nach der Zerstörung der alten Hauptstadt Ayuthaya durch die siegreichen Heere Burmas, das amphibische „Krung Thep“, die Stadt der Engel: Bangkok begründet haben.
40 Jahre später aber habe ich stromauf stromab keine schwimmenden Märkte mehr gefunden, und die 300 Wats (Tempelanlagen) scheinen von der urbanen Globalisierung verschluckt worden zu sein. Bangkok, das den Neuankömmling mit Wahrnehmungsreizen bis zur Schmerzgrenze überflutet und beinahe vergewaltigt, erschließt sich ihm aber erst, wenn er bereit ist, all die Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten hinzunehmen, und es als einen heiteren Ort der Melancholie zu begreifen, der ohne Zentrum auskommt, weil alles hier, wo immer dich der auf Betonstelzen gebaute Skytrain ausspuckt, von dem aus die Stadt geisterbahnartig erfahren werden kann, eine Mitte so voller brodelnden Lebens hat, dass dir die Mariahilferstraße in Wien aus deiner Erinnerung daneben wie eine nachtschlafene Straße in tiefster Provinz und versiegelter Zeit vorkommt.
Und doch: Man findet sie, fast unbeabsichtigt, die Tempelanlagen, kleine und große und so kunstvoll angelegte, grüne Oasen der Ruhe, dass sich das Auge nicht satt sehen kann und will. Hier – mitten im Schatten himmelstürmender Glas- und Stahlkonstruktionen oder weitflächig umgeben von lastenschwingenden Baukränen, die auch diese letzten Refugien zu zerstören drohen, gibt es Orte der Besinnung und Ruhe, die dich zur Zeitflucht einladen. Eine Einladung, die du gerne annimmst, weil du müde bist vom Schauen und Gehen und dich Zurechtfindenwollen, aber auch, weil es zu regnen begonnen hat.
Ich will zum Königspalast, um von dort aus mit einer Fähre den Maenam entlang zu fahren, von dessen Uferrändern aus sich mir die Stadt so zeigen soll, wie es die Postkarten tun. Längst habe ich es aufgegeben Taxifahrer nach dem Weg zu fragen. Selbst das Lesen eines Stadtplans scheint sie zu überfordern. Sie drehen die Karte im Uhrzeigersinn solange, bis mir schwindlig wird und der Königspalast wie in einem Tunnelfilter verschwindet. Dann behaupten sie den Weg zu kennen und stürzen sich mit Atemschutzmasken in den alptraumhaften Verkehr. Ein Rauchverbot bei dieser Feinstaubbelastung kann nur als Schikane interpretiert werden.
Wo er mich aber aussteigen lässt, ist kein Königspalast weit und breit nicht. Ich wecke einen TukTukfahrer. Das sind dreirädrige motorbetriebene Rikschas. Er schüttet sich einen Eimer Wasser übers Gesicht, schaut kurz auf den Plan und fährt los. Wir fahren und fahren, bis er mich am Ufer des Maenam aussetzt, wo ich mich plötzlich unter Obdachlosen befinde, die in Embryohaltung auf dem Beton schlafen. Einer von ihnen schnorrt mich um Zigaretten an. Ich schenke ihm eine ganze Packung von Zigaretten, deren Schachtel einen vom Speiseröhrenkrebs befallenen Schlund mit nikotingelben Zahnstümpfen zeigt. Er kann sein Glück kaum fassen und weckt seine Gefährten, die sich alle bei mir bedanken wollen, bis es mir zuviel wird und ich reißaus nehme, fast einem Soldaten in Khakiuniform in die Arme fallend, den ich – die Gelegenheit nützend – frage, ob er mir auf dem Stadtplan zeigen könne, wo ich mich gerade befinde. Auch er läßt ihn wieder um 360 Grad kreisen und gibt mir so ohne Verlegenheit zu verstehen, dass es überall sein kann, wo ich gerade bin oder vielleicht sogar schon außerhalb des Bereiches, den der Plan widergibt. Ich mache einen Wai, wie ich ihn von den Kofferträgern und RezeptionistInnen im Hotel gesehen habe; diese hoheitsvolle Geste des Respekts und des Dankes, indem ich die Hände falte und den Kopf senke: Khob khun khrap. (Danke) Er mit dem gleichen Wai: Ma pen rai (Never mind) Endlich finde ich eine Dame, die ein ausgezeichnetes Englisch spricht und mich sicher bis ins weit entfernte Hotel begleitet hätte, wenn sie nicht – wie sie fast schmerzvoll betonte – krank wäre, aber nun schon auf dem Weg der Genesung sei. Nun weiß ich ungefähr, wo ich bin. Den Königspalast mache ich morgen, wenn ich dazu komme, denn ich will auch noch in die Chinatown. Jetzt aber stürze ich mich ins Nachtleben.
Den Hunger stillt man hier en passant. Überall dampfen die Garküchen. Hier ein heißer Tee, dort ein spicy Spießchen vom Lamm, Schwein oder Huhn. Oder gar eíne Ente in Rotweinsauce beim Chinesen? Die unzähligen Möglichkeiten sich mit einem Häppchen hier und einem heißen Tee dort zu stärken, lassen einem die Dreigeteiltheit eines Tages durch Frühstück, Mittag- und Abendessen schnell vergessen. Dazu kommt, dass es das Wort „Sperrstunde“ in der Thaisprache nicht zu geben scheint. In den bis zu 10 stöckigen Shoppingmalls gibt es nichts, was es nicht gibt. Sogar ein Aufladegerät für meine Kamera finde ich. Wer sich mit Raubkopien jeder erdenklichen Software eindecken will, bitte. Musik in Terrabyte von Klassik bis Hiphop zu Spottpreisen. Der in den 80igern geprägte Begriff von den asiatischen Tigerstaaten, die sich in einem Jahrzehnt vom frühen Mittelalter und den feudalen Strukturen von Agrarländern in Hochtechnologie katapultiert haben, wird hier anschaulich, aber auch die mit ihr einhergehende industrielle Zerstörung der heimischen Arbeitswelten.
Wer hier für einen über 12 stündigen Arbeitstag mit mehr als 150 € am Monatsende nach Hause geht, wenn die grauen Betonklötze der Slums, in denen es oft weder Wasserleitungen noch funktionstüchtige Toiletten, weder Straßenbeleuchtung noch eine Müllabfuhr gibt, den Namen eines Zuhause verdienen, schätzt sich glücklich.
In mancher Hinsicht steht das „S“ vom so bemühten und sicherlich devisenbringenden Klischee vom LOS – land of smile – für Abertausende eher für sadness, da die ökonomische Situation vor allem einen großen Teil der weiblichen Bevölkerung auf den Strich zwingt, um ihre eigenen Kinder und auch noch ihre auf dem Land lebenden Familien zu ernähren.
Woraus sich die viel gepriesene „Sanuk“ (Lebensfreude) speist und wie es den Menschen gelingt, sich trotz Armut dieses Smile zu bewahren, bleibt mir ein Rätsel.
Übrigens lassen sich Thais gerne fotografieren.
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roli
Posted at 14:52h, 08 Dezembersehr schöner vergleich mit dem alten reiseführer…..
Helmut Hostnig
Posted at 16:48h, 08 DezemberDanke, lieber Roli. Hätte nicht gedacht, dass du meinem Blog einen besuch abstattest und so ins Detail gehst.