Babylon calling

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Er fiel in ein Loch. Vielleicht war es auch ein Schacht. Es war zu dunkel, um das festzustellen. Außerdem war es egal. Er fiel und fiel und wusste nur, dass er irgendwann auf einem Grund, den es nicht zu geben schien, aufschlagen musste. Bis jetzt nämlich war der Fall durch nichts aufzuhalten. Das einzige, was er im Fallen wahrnahm und zu enträtseln versuchte, obwohl ihn die Angst schier besinnungslos machte, waren Stimmen, Fetzen aus Dialogen, Geräusche aus unterschiedlichsten Szenarien, als hätte sich eine Fernbedienung selbstständig gemacht und ihn selbst wie einen virtuellen Avatar oder als ein Hologramm aus Pixeln durch 100 TV-Programme geschickt. Außerdem war er in Endlosschleifen von Uhrzeitangaben, Klingeltönen…wir graben den Schacht…, Besetztzeichen und Fahrplanauskünften in ihm fremden Sprachen gefangen. …mittendrin, statt nur dabei…Das allein schon hätte ihn verrückt machen müssen. Zum Sturz also noch die Folter in ihn eindringender und unter die Haut gehender O-Töne aus unsichtbaren Lautsprecheranlagen unterbrochen von wummernden Bässen: …mit dem Summerton…gate 24…Zug fährt ab…sie erreichen uns…hier spricht der automatische…es ist mit dem …Achtung! Achtung! Gleis…Da er die Ohren nicht einfach zumachen konnte und diesem Gewirr aus Werbeeinschaltungen, Geräuschen und Stimmen ausgeliefert war, versuchte er wenigstens die Augen zu schließen. …Fällst du noch oder lebst du schon? …Aber selbst durch die geschlossenen Augendeckel sah er das irrlichternde Neonblau, das mit fahlem Grün abwechselnd spät in der Nacht noch in Wohnzimmern flackert wie ewiges Licht auf den Friedhöfen an Allerheiligen oder Allerseelen. Nicht dass er zuzuhören aufgehört hätte, aber aus allen empfangenen Signalen hatte sein Ohr eben eine weibliche Stimme herausgefiltert: …Wenn das Schicksal zuschlägt, dann schlag zurück oder nimm es hin!… Während er noch über diesen unerhört aufrührerischen Satz nachdachte, drang eine nicht weniger interessante Wendung an sein ungeschütztes Ohr. Gern hätte er sie aus dem Zusammenhang erfahren, aber das war bei dieser Geschwindigkeit nicht möglich: Ein Montagleben lang…Und noch einer. Keine Feststellung. Eine Frage: …Wo bist du Rapunzel? Wo ist es, dein Haar?… Hier endlich war Hoffnung, vielleicht sogar Rettung: Eine Wurzel, die aus dem nackten Felsen ragte und Halt zu bieten versprach, wenn auch nur vorübergehend. Aber da war keine Wurzel. Was da hing, war ein abgeschnittener Zopf, der sich in einem Felsvorsprung verfangen hatte. Wenn er sich an ihm festhalten wollte, würde er in die Dornen fallen und sein Augenlicht verlieren. Unaufhaltbar ging der Hörsturz weiter. Er fiel, und fiel, und fiel, und fiel…Aber es war kein Schacht mehr, kein Abgrund, der sich wie ein Maul aufgetan hatte, um ihn zu verschlingen. Er lag in einer Röhre mit einer tunnelartigen Öffnung. Sie hatte nur so viel Durchmesser, dass sein Körper sie ausfüllte. Das war schlimmer als der Fall. Das war fast so beklemmend wie scheintot in einem zugenagelten Sarg liegen. Dazu kam das Zirpen, Klopfen, Summen, Rattern oder Sägen und dazwischen eine Stimme aus dem Off, die ihn auf seine Bibelfestigkeit prüfen wollte. Von allen Fragen aber war ihm nur diese in Erinnerung geblieben: …Wie heiß ist es in der Hölle? … Mittlerweile nämlich lag er in einer wannenförmig ausgehöhlten Rutsche auf dem Rücken. Es war Sommer. Kinder kreischten. Und er hörte sich aufschlagen auf dem Wasser eines seichten Beckens für Nichtschwimmer. Es stimmt also nicht, dachte er noch, dass der Tod kommt wie das Geräusch eines Nerzmantels, der über eine Kinderrutsche gleitet. Nein. Er kommt als Summe aller in unserem Leben wahrgenommenen und gespeicherten Sätze, die bei dem Versuch sie zu enträtseln und ihnen für das uns geschenkte Leben einen Sinn zu geben, in der Cochlea implodieren. Aber das tun sie erst, wenn man sie nicht mehr deuten will, widersprach sein Freund, mit dem er in würziger Luft unter strahlend blauem Himmel auf einer sattgrünen Wiese lag, umsummt von emsigen Bienen und angestarrt von einer glubschäugigen Kuh, die für eine Schokolade warb und auf den Namen Paula hörte. Du meinst, wenn man des Deutens müde geworden ist oder keine Entscheidungen mehr treffen will. Sich aufgibt, meinst du?“ Als ob er mich gar nicht gehört hätte, riss er eine Blume aus dem bunten Teppich, rupfte die gelben, weißen und violetten Blütenblätter aus, betrachtete, was übrig geblieben war, und warf es weg. „Schlag zurück! Dieser unglaubliche Imperativ war es und die Frage: Wo ist es, dein Haar, Rapunzel?, die mich Grund finden ließen oder Halt im freien Fall. Wie könnte ich sonst hier sitzen, ein Montagleben lang? Haare wachsen nach, sagte er wie zu sich selbst. Auch Samson war blind. …Bleibt so…, schrie der Regisseur. …Rührt euch nicht. Wir können diese Kulisse nicht noch einmal aufbauen. Das zahlt mir niemand…
Ich hatte es aufgegeben, in all dem einen Sinn zu suchen, und als hätten wir diese Szene einstudiert, schauten wir uns für einen kurzen Augenblick in die Augen und brachen wie auf ein verabredetes Zeichen in ein wieherndes Lachen aus.

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1 Comment
  • Malik
    Posted at 01:58h, 13 Februar Antworten

    Guter Blog, gefaellt mir sehr. Auch gute Themen.

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