Lahemaa Nationalpark

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Eigentlich wäre heute aus dem Vorhaben, den Lahemaa Nationalpark aufzusuchen nichts geworden. Übergangslos ist über Nacht der Winter eingekehrt. Er hat auch die Esten überrascht. So schön der Zuckerguss auf den Türmen und spitzen Giebeldächern auch anzusehen war, zu ebener Erde waren die Pflastersteine unter der dünnen Schneedecke so vereist, dass es für die Autos kein Fortkommen gab und man alle Augenblicke Gefahr lief auszurutschen: Gelegenheiten genug, Tallinn auch aus anderen Perspektiven wahrzunehmen. Kein Wetter also für Ausflüge. Immerhin hatte es zu schneien aufgehört. Das und die Aussicht auf einen Tag außerhalb der Stadt muss auch die mit ihren 78 Jahren sehr rüstige Dame eines kleinen Reiseunternehmens veranlasst haben, den Schofför aus der gemütlichen Wohnung zu locken, um vielleicht auf Touristen zu stoßen, die es sich trotz der widrigen Bedingungen in den Kopf gesetzt hatten, dem Lahemaa Nationalpark einen Besuch abzustatten. Ein Zusammentreffen, das wir alle, selbst der anfänglich skeptische Fahrer, nicht bereut haben. Er nämlich hielt, als wir in den verschneiten Wald kamen, den der Winter ebenso kalt und übergangslos erwischt hat wie uns Menschen, alle Augenblicke, um diese herrliche Winterlandschaft mit seiner Kamera zu bannen, während die quirlige Estin uns mit der leidvollen Geschichte ihrer Heimat vertraut machte. 1936 geboren hatte sie als Kind zuerst die deutsche Besatzungszeit erlebt und nicht viel später die sogenannte Befreiung durch die Truppen Stalins, die ihm anlässlich seines bevorstehenden Geburtstages die Schlüssel der zerbombten Stadt überreichen wollten. 40 000 Esten wurden nach Sibirien deportiert. Die Zahlen schwanken. 1978 kroch der letzte Waldbruder, wie sich die Vereinigung des estischen Widerstandes nannte,  aus seinem Unterstand im Wald, um sich den Behörden zu ergeben. Bis 1991 sollte diese für die meisten Esten demütigende Zeit dauern und heute noch sind die geschlagenen Wunden nicht vernarbt.  Putin schürt den Konflikt zwischen den im Land verbliebenen Russen, die in einer Paralellwelt leben, russische Schulen besuchen und russisches TV schauen, und zu den Verlierern des Wirtschaftssaufschwungs zählen. Wie schnelle sich Konflikte entzünden können, das bewies 2007 der Streit um ein sowjetisches Denkmal, das aus Tallinn entfernt und auf einem Friedhof am Stadtrand zur Aufstellung gebracht werden sollte. Frustrierte Jugendliche aus den Randbezirken randalierten in der Innenstadt. Es gab einen Toten und viele Verletzte. Russland setzte die Energieabhängigkeit Estlands als Waffe ein und verfügte einen Stopp der Treibstofflieferungen. Es bedurfte internationaler Bemühungen, um die Lage wieder zu stabilisieren.
Vielleicht erklärt das auch, warum die Esten im Umgang mit Fremden  so verhalten sind. Sie sind freundlich, wirken aber im Augenblick, in welchem sie angesprochen werden, wie verstört. Sie sind sehr wortkarg. Bei manchen hatte ich das Gefühl, dass sie wie Automaten nach dem Einwurf einer Münze reagieren, ihren Satz sagen, um gleich darauf wieder zu verstummen. In einer Kirche habe ich zB. einen dort religiöse Broschüren und Innenaufnahmen auf Postkarten verkaufenden Menschen mit der Frage richtiggehend aufgeschreckt, ob diese Kirche schon immer eine protestantische war. No, also catholic, hat er geantwortet. Dann hat er den rechten Augendeckel wieder zufallen lassen und mir signalisiert, dass nichts mehr, keine Wortspende mehr zu erwarten sei. Nun: Es ist immer gewagt, von vielleicht 30 Begegnungen auf die Allgemeinheit zu schließen. Möglicherweise macht jeder Reisende in seinem von ihm bereisten Land andere Erfahrungen und nicht einmal in ihrer Summe lassen sie wohl allgemeingültige Schlüsse über ein Land zu.
Nach diesem nachdenklichen Diskurs aber wieder zurück nach Lahemaa, wo wir einen dieser weit verstreuten barocken Gutshöfe besichtigen, zu denen nicht nur das Herrenhaus mit seiner imperialen Auffahrt gehörte, sondern eine Brennerei, kleine Seen und gepflegte englische Gartenanlagen mit einer Orangerie. Das ganze Ensemble mit seinen pastellgelben Fassaden eingetaucht in von keinem Fuß berührten Schnee, eine Holzschaukel ganz in Weiß, Birken, große Stille und darüber ein wolkenloses, wie gemalt wirkendes, Himmelblau.
Erst jetzt konnten wir den Zauber, den Estland auf Fremde ausübt, so wirklich verstehen. Vielleicht können die Aufnahmen eines verlassenen Fischerdorfes, die gewaltigen Findlinge, die wie gestrandete Wale daliegen und der von der letzten Sonne entflammte Schilfgürtel das nachempfinden lassen.

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