Umea: Kulturhauptstadt 2014

P1130643P1130695Schon im Vorfeld der Reise nach Umea, dessen Auslaut auf nordischen Tastaturen einen kleinen Kreis aufweist, welcher der Überlieferung zufolge die gerundeten Lippen bei der Aussprache darstellen soll und als nordisches A fast wie ein Umlaut und überaus exotisch klingt, war klar, dass wir sie weder mit Bus noch Bahn unternehmen wollen, da wir für diese Strecke einen Tag verloren und auf über 700 km links und rechts nichts als Wald gesehen hätten. Eine weise Entscheidung, wie uns die Wirtin des b&b in Stockholm bestätigt hat, die trotzdem nicht ganz nachvollziehen konnte, warum wir gerade nach Umea wollen. Jedenfalls nicht, weil es 2014 mit Riga zur Kulturhauptstadt Europas ausgerufen worden ist, was den Einwohnern dieses seltsamen Konglomerats an Häusern entlang und beidseits der Deltamündung des Flusses Umeälven kaum bewusst sein dürfte, und bis auf eine aufgerissene Promenade keinen Bauboom wie in Marseille ausgelöst zu haben scheint. Umea, zentrumslose Stadt am Rande Europas, Stadt der Birken und Einfallstor nach Lappland und in die P1130835Wildnis des hohen Nordens wäre sicher nie ein Reiseziel gewesen, hätten wir nicht eine Einladung von Lena und Pär erhalten. Lena habe ich mit 18 in P1120164Bregenz kennen gelernt, als sie P1130832dort mit anderen SchülerInnen einen Sommer lang an einem Austauschprogramm teilgenommen hat. Wenig später haben wir sie – mein Bruder, ein gemeinsamer Freud und ich –  in Örebro besucht, da wir dort ganz in der Nähe – wie noch öfter und damals in Skandinavien ganz ohne grenzenlosen Binnenmarkt möglich – gutbezahlten, aber knochenharten Sommerjobs (wie zB. Torfstechen im Akkord, Hubstaplerfahren, Kartoffeln oder Erdbeeren ernten) nachgegangen sind, mit denen wir uns unser Studium finanziert haben. Dann brach der Kontakt ab. Dank FB, mit dem mich wegen seiner zunehmenden Kommerzialisierung von Userdaten und Ausdünnung des Datenschutzes ein schizophrenes Verhältnis (Beziehungsstatus: very complicated!) verbindet, gelang uns eine neuerliche Kontaktnahme. Jetzt – 46Jahre später –  stehen wir uns am stadtnahen Flughafen gegenüber und sind herzlich willkommen in Umea.

Skulptur2FahnenstangenPferdBeide – Lena und Pär – übertreffen sich an Gastfreundschaft. Sie haben eine Wohnung an der Peripherie, wenn es denn eine in Umea gibt, wenige Gehminuten vom Nydalasjön, einem der zigtausenden von Binnenseen Schwedens. Wie wir bald erfahren, ist Umea kein verschlafenes Nest in der Provinz Västerbotten, sondern eine junge Universitätsstadt, die sich vor allem im IT-Bereich hervortut. Es hat neben einem Campus der Künste, einem „Bildmuseet“ mit Ausstellungen international angesehener KünstlerInnen, etlichen Stadien und  innovativen Theaterbühnen sogar ein renommiertes Opernhaus, wie es eigentlich nur in Metropolen vorzufinden ist. Auch die Musikszene dürfte mit Live-Jazz und Rockfestivals gut etabliert sein. Einer seiner berühmtesten Bürger ist wohl Stieg Larsson gewesen, der mit seiner Millenniumstrilogie Weltruhm erlangt hat, leider aber vor Drucklegung an Herzversagen gestorben ist.



Lena zeigt uns den weitläufigen Skulpturenpark von Umedalen, ehemals psychiatrische Klinik, die uns der großzügigen Anlage wegen an die Baumgartner Höhe erinnert. Eine Bildgalerie eines Wikipädiabeitrages zeigt die Skulpturen und führt ihre Hersteller an. Auch im Winter, der wegen der zugefrorenen Seen und Flüsse und manchmal sogar des bottnischen Meerbusens, zu Schlittenfahrten mit Polarhunden und anderen auf dem Eis möglichen Fortbewegungsarten einlädt, soll es einen Skulpturenpark für Kunst aus Eis geben.

Erschlossen und kolonisiert wurde der arktische Norden im 17. Jhdt. Mit den ergiebigen Silberminen am Polarkreis wurde der 30-jährige Krieg finanziert, der Schweden damals zu einem global player in Europa machte. Übrigens waren es wehrhafte Sennerinnen aus Vorarlberg, die ausgerüstet mit Sensen und Heugabeln die Schweden aus dem Bregenzer Wald vertrieben haben sollen, wie ich noch im Geschichtsunterricht gelernt habe. Das hat mir damals einen Heidenrespekt vor Frauen eingeflößt, wie ich mich noch erinnern kann.

In den Nachrichten hören wir eben, dass Element SIX, ein englischer Betrieb in einer noch nördlich gelegeneren Stadt, dessen Kerngeschäft Industriediamanten, Schneidstoffe für Präzisionswerkzeuge sind, Hunderte Angestellte entlassen hat. Ein schwerer Rückschlag für die ganze Region dem die Zentralregierung in Stockholm auch in Bezug auf Infrastrukturmaßnahmen wenig Aufmerksamkeit und noch weniger Geldmittel schenkt, wie es Lena bitter aufstößt. „Wir im Norden aber haben uns schon immer auf uns selbst und unseren Einfallsreichtum verlassen müssen und finden immer wieder Lösungen.“ Sie erzählt vom Unternehmen “Erlkönig”, das eine aussterbende Gemeinde gerettet hat, nachdem ein findiger und dem Motorsport frönender Einwohner, einen Fahrzeughersteller eingeladen hat, seine fabrikneuen Autos auf den von ihm präparierten Pisten zugefrorener Seen zu testen. „Seither reisen jeden Winter 1000 Tester aus 16 Ländern an, um hier im Auftrag von 50 verschiedenen Firmen der Automobilindustrie die neuesten Erfindungen der Branche auf ihre Kältetauglichkeit zu prüfen“, schreibt Johannes Klaus, ein Grimme-Preis-gekrönter Blogjournalist über seine lesenswerten Erlebnisse in Arjeplog. Wie du vielleicht schon richtig vermutet hast, Erlkönig deshalb, weil die Autos mit Planen verdeckt sind, wenn sie in Umea ausgeladen werden, damit niemand einen Blick auf sie werfen kann.

Umea ist eine Stadt, die man auf Grund der guten Streckenführung eigentlich auch mit dem Fahrrad erkunden könnte, falls man ausdauernd genug ist, weil die Stadt, wenn man die weit verstreut liegenden Hausansammlungen nun Stadt nennen will, mit ihren 130 000 EinwohnerInnen, davon 40 000 StudentInnen, sehr weitläufig ist. An der Mündung von Umeälven legen die Fährschiffe nach Finnland ab, die für die Überfahrt 4 Stunden brauchen.

P1130694Nach dem Bildmuseet, in welchem auf 5 Etagen kritische Bild- und Installationskunst aus China ausgestellt ist, (Bild zeigt fotorealistisch, wie verwundete Studenten – der Zensur wegen Pinguine – vom Tienanmenplatz gebracht werden) haben wir das Freilichtmuseum Västerbotten besucht, das uns neben Ausstellungsräumen mit P1130637Fotografien von Sune Jonsson, der das einfache Leben der Landbevölkerung dokumentierte, die Kultur der Samen näher bringt, aber auch, wie die Villen von Großbauern innen ausgestattet waren. Übrigens ist der Besuch der Museen kostenlos, was uns sehr wundert. Hier scheint noch immer der sozialdemokratische Geist der 20iger Jahre zu wehen, in welchen auch in Österreich Volksbildung mit der Einrichtung von öffentlichen Bibliotheken und  Volkshochschulen groß geschrieben wurde. Selbst der schwedische Radiosender SR soll diesem Auftrag mit seinen unzähligen Podcasts im Sinne der 1912 vom sozialdemokratischen Politiker und Volkshochschullehrer Rickard Johannes Sandler gegründeten ABF (Arbeiterbildungsverein) noch heute nachkommen und Vorlesungen, kulturelle Veranstaltungen und Studienkreise anbieten.

Lena und Pär haben für ein paar Tage Urlaub und wollen uns auf ihr Sommerhaus 60 km nördlich von Umea mitnehmen. „Das ist ohne Komfort!“, will sie uns warnen. „Kein fließend Wasser, keine Elektrizität! Aber du musst das ja von deinen Reisen gewohnt sein!“, schließt sie schelmisch. Wir sind neugierig und freuen uns schon.

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