29 Aug Auf Großmutters Spuren in Nordböhmen
Meine Großmutter war aus Böhmen, Nordböhmen, d.h sie kam aus dem ehemaligen Siedlungsgebiet der Sudetendeutschen, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges per Benesdekret “ausliquidiert” wurden; binnen 24 Stunden hatten sie mit Handgepäck Haus und Hof zu verlassen. Ja, die Tschechen hatten durchaus noch eine Rechnung offen mit den Deutschen und Österreichern. Will man den aufgestauten Hass verstehen, der in den Todesmarsch von Brünn und die Vertreibung der Sudetendeutschen in der RSB, der russisch besetzten Zone, mündete, müsste man zurück bis zu den Hussitenkriegen, dem Prager Fenstersturz oder zumindest bis zu dem schwelenden Nationalitätenkonflikt in den ehemaligen Kronländern der Habsburgermonarchie (eben hat mir das implementierte Wörterbuch Hassburgermonarchie vorgeschlagen) zurückgehen und vor allem die Verbrechen berücksichtigen, welche die Nationalsozialisten an den Tschechen verübt haben.
Zwei historisch belegte Zitate sollen aufzeigen, was der Plan der Nazis für die Tschechen vorsah, und zu welchen Vergeltungsmaßnahmen gegen die in Böhmen und Mähren angesiedelten Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges aufgerufen wurde:
Aus einer Denkschrift des „Staatssekretärs beim Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank:
„Das Ziel der Reichspolitik in Böhmen und Mähren muss die restlose Germanisierung von Raum und Menschen sein. Um sie zu erreichen, gibt es zwei Möglichkeiten:
I. Die totale Aussiedlung der Tschechen aus Böhmen und Mähren in ein Gebiet außerhalb des Reiches und Besiedlung des freigewordenen Raumes mit Deutschen, oder
II. bei Verbleiben des Großteils der Tschechen (…) die gleichzeitige Anwendung vielfacher, der Germanisierung dienender Methoden (…)
Eine solche Germanisierung sieht vor:
1. Die Umvolkung von rassisch geeigneten Tschechen;
2. Die Aussiedlung von rassisch unverdaulichen Tschechen und der reichsfeindlichen Intelligenzschicht, bzw. Sonderbehandlung (sprich: Ermordung) dieser und aller destruktiven Elemente;
3. die Neubesiedlung dadurch freigewordenen Raumes mit frischem deutschen Blut.“
Aufruf der Tschechoslowakischen Regierung an das Volk der tschechischen Länder, damit es zu entschiedenen Kampftaten für die Befreiung der Republik übergeht, 17.April 1945, Košice“ (Kaschau):
“Erinnert euch an die furchtbaren Qualen während der sechs Jahre der deutschen Okkupation und vergegenwärtigt euch, dass jetzt der Augenblick der Rache für die blutigen Hinrichtungen durch Heydrich, Daluege und Frank gekommen ist, für den Tod der Hingerichteten und zu Tode gefolterten, für die Qual der Gefangengehaltenen, für die Erniedrigung der Versklavten, für Tränen und Leid von so vielen unglücklichen Familien unserer Nation.
Geht abrechnen mit den Deutschen für all ihre Gräueltaten und kennt kein Erbarmen mit den deutschen Mördern. Rechnet gnadenlos auch mit den Verrätern der Nation und der Republik ab!“
Quelle: „’Výzva ceskoslovenské vlády k lidu ceských zemí’, aby prešel k rozhodným bojovým cinum za osvobození republiky, 17.duben 1945, Košice“. Vyšlo na str. 60-63 knihy „Cestou kvetna. Dokumenty k pocátkum naší národní a demokratické revoluce. Duben 1945 – kveten 1946“, Svoboda Praha 1975. (Erschienen im Buch „Der Weg vom Mai. Dokumente zum Beginn unserer nationalen und demokratischen Revolution.)
Wie man in den Wald hineinruft, so tönt es zurück! Das gilt im Kleinen wie im Großen, für Individuen, Ethnien, Religionsgemeinschaften, Minderheiten ebenso wie für Gebilde von Staaten. Ich kenne nur zwei politische Führer, für die Vergeltung keine Option war und Gewaltlosigkeit politisches Programm: Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. Jesus, auf den die Christen sich so gerne berufen, hatte es vorgemacht und damit dem Auge um Auge Prinzip des Alten Testamentes aufgekündigt.
Meine Großmutter mütterlicherseits kommt aus Parchen, ein kleines Dorf in der Nähe von Stein Schönau, das heute Kamenicky Senov heißt. Dort war die berühmte böhmische Glasmanufaktur angesiedelt, in der meine und meiner Geschwister Ahnen und Urahnen aus der Dynastie der Pietsch’s und Palme’s als Glasmaler und Graveure sehenswerte Exemplare von Kunst am Glas hinterlassen haben.
Auf Spurensuche also. 70 Jahre nach der Vertreibung und 16 Jahre nach dem Ende der DDR scheint die Grenzregion der Sächsischen und Böhmischen, pardon Tschechischen Schweiz, ein touristischer Hotspot zu sein, den nach und nach auch die Einheimischen entdecken. Im Friedhof in Parchen oder Prachen, – die Entgermanisierung hat nur vor den Namen auf den Friedhöfen Halt gemacht – suchen eben angereiste deutsche Familien nach den Gräbern ihrer Ahnen.
Ich erkenne die Kirche wieder, denn ich habe eine alte Aufnahme von der Kirche im Winter aus dem Jahr 1924, von der man der Schneemassen wegen nur den Turm sieht, die heute ohne Uhr ist. Daneben steht ein altes Schulgebäude, in welchem sicher auch einmal meine Oma die Schulbank gedrückt hat mit Blick auf die Wiesen, die in bestellte Äcker übergehen und gleich hinter dem Schulhaus beginnen.
Einen Steinwurf entfernt der Herrenhausfelsen – heute , ein erst seit wenigen Jahren geschütztes Naturdenkmal, das an den vulkanischen Ursprung der Landschaft erinnert. Auch dort – den wie Orgeln anmutenden Basaltstelen – sehe ich meine Oma als kleines Mädchen herumklettern. Wie gerne hätte sie ihren Geburtsort, die Schule, den Felsen und das Haus, in welchem sie mit ihren 11 Geschwistern aufgewachsen ist, ihrer Tochter, unserer Mutter gezeigt, aber es ist nie dazu gekommen; außerdem war eine Reise hinter den Eisernen Vorhang der bürokratischen Hürden wegen zeitaufwendig, teuer und beschwerlich.
Wir finden die Ruine der von Elias Palme 1905 gegründeten Fabrik; noch heute zeugt die bröckelnde Jugendstilfassade davon, dass Ästhetik damals selbst in der Architektur von Fabrikanlagen ein Anspruch war. Dort, wo die weltweit exportierten Luster erzeugt wurden, sprießt nun Grünzeug aus dem Beton: Rebels without a cause. Warum die ArbeiterInnen allerdings daran erinnert werden mussten, dass sie sich zuerst genau überzeugen sollten, bevor sie etwas behaupten, ist mir ein Rätsel. Dieser Leitspruch jedenfalls dürfte dem Fabrikherrn sehr am Herzen gelegen sein, sonst hätte er ihn wohl nicht an einem Deckenbalken anbringen lassen.
Die Kuratorin des Glasmuseums hat in privatem Studium die deutsche Sprache erlernt und ist höchst erfreut, einem leibhaften Nachfahren jener Generationen von später Vertriebenen gegenüber zu stehen, die den Ort und seine Umgebung einmal zur Blüte gebracht und so nachhaltig geprägt haben. Es war ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Stolz und Trauer, als ich die Postkarte mit dem Abbild einer von einem Urahnen gemalten Vase in Händen hielt, mit der das Glasmuseum wirbt. Wie hätte das meine Oma gefreut zu sehen, dass hier in ihrer ehemaligen Heimat über alles Trennende hinweg wenigstens in einem Museum gewürdigt wird, was ihre Altvorderen mit der Begründung der Böhmischen Glasindustrie geleistet hatten.
Im 17. Jhdt. hatten die Einwohner begonnen, sich mit der Veredelung des Glases zu befassen. Nach dem Bau von Glashütten musste Rohglaus nicht mehr importiert werden und es konnten Glasraffineure, Glasgraveure, -Maler und -Schleifer beschäftigt werden, die ihr Handwerk in einer im Jahre 1856 eigens dafür gegründeteten Glasschule (übrigens die älteste der Welt) erlernt hatten. So wurde Stein Schönau zur weithin bekannten Stadt des Glases, der Kronleuchter und Luster. Das war vor allem ein Verdienst der Parchener Familie Palme, die mit der Lustererzeugung schon 1724 begonnen hatte. Die Schmelze in den Böhmischen Glasöfen mit Temperaturen zwischen 1300 und 1400 Grad Celsius dauerte etwa 24 Stunden; die Arbeitsschicht der Glasmacher 12 Stunden. Bei einem Ofen mit 8 Glashäfen arbeiteten 8 Meister mit 8 Gehilfen und weiteren HilfsarbeiterInnen (meistens Frauen und Kinder) als Modelhalter und Glaseinträger. Sie befeuerten den Ofen und bereiteten das Glasgemenge vor. Zum Glashüttenbetrieb gehörten Berufe wie Kiesbrenner, Pochermänner, Aschenbrenner, Flusssieder, Hafenmacher, Formenschnitzer und Scheiterhacker. Die Lebensdauer eines solchen Ofens betrug 6 bis 12 Monate; dann musste er abgetragen oder neu aufgebaut werden.
Der Bahnhof von Kamenitzky Senov, auf dessen Gelände heute noch die im Betrieb befindliche Glashütte Jilek steht, ist längst aufgelassen. Auf den Schienen sprießt das Gras. Hier wurden die für den Export bestimmten Glaswaren verladen. Vermutlich hat auch meine Großmutter ihre Reise in den Westen von hier aus angetreten, um als Au pair ihr Glück zu versuchen. Da war sie 18 und der Erste Weltkrieg gerade zu Ende gegangen. Vielleicht geht die Phantasie mit mir durch, aber ich höre
in der Ferne das Signalhorn des einfahrenden Zuges, der von einer schweren schwarzen Lokomotive gezogen wird; die Rauchfahne wird sich erst verteilen, wenn der Zug schon wieder außer Reichweite ist, und ich sehe meine Oma mit einem Taschentuch den Zurückbleibenden nachwinken.
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Mona Hickisch
Posted at 22:49h, 11 SeptemberMeine Oma war ebenfalls aus Steinschönau, 1899 geboren und vielleicht sogar eine Schulkameradin Ihrer Großmutter. Die Familie musste zweimal flüchten, nach 1918 und 1945 und hat sich in Nürnberg ansässig gemacht. Ich denke oft an die Familiengeschichte, die mir zum Großteil von meiner Mutter erzählt wurde und bedaure es oft, meine Oma nicht selbst mehr zu ihren Lebzeiten befragt zu haben. Danke für Ihren Beitrag!
Helmut Hostnig
Posted at 17:51h, 13 SeptemberIch danke Ihnen für Ihren Kommentar. Ja, das kann gut sein, dass meine und Ihre Oma gemeinsam zur Schule gegangen sind. Jetzt ist auch meine Mama gestorben, die Steinschönau nie hat sehen können. Aber wir werden die Erinnerung wach und am Leben halten, ja? Liebe Grüße nach Nürnberg.
Manfred Voita
Posted at 16:58h, 27 JanuarMein Vater stammt ebenfalls aus dem Sudetenland und hat es auch nie wiedergesehen, was wohl einer Mischung aus Angst vor dem, was er dort zu sehen bekäme und den Strapazen einer Reise geschuldet war. Irgendwann werde ich mich mal auf den Weg machen. Eine Cousine meines Vaters lebt noch, die selbst mehrfach in Tschechien war. Über sie weiß ich dann wenigstens, wohin ich soll.
Anonymous
Posted at 09:14h, 30 AugustLieber Helmut,
Du weisst, auch meine Grosseltern (Vater) stammen aus Böhmen, dein Bericht ist sehr interessant, würde gern mit dir darüber reden.
Erny Grenoble