01 Aug Georgien: Versuch einer Annäherung
Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Dmanisi
In Georgien kursieren viele Varianten seines Gründungsmythos. In der Version, die ich zu hören bekam, waren die Georgier die letzten Bittsteller um eine Heimat, weil sie am Wegrand gelagert, gut gespeist, geschlafen, aber auch viel gebetet hätten und deshalb zu spät gekommen seien. Da Gott sie wegen der vorgebrachten Argumente so sympathisch gefunden habe, seien sie mit dem Land, das ER sich selbst als Urlaubsland oder Rückzugsort ausersehen hatte, beschenkt worden.
Ich will mich aber an die verhalten kritische, wenn nicht ironisch konnotierte Legendenerzählung Nino Haratischwilis halten, die in der Familiensaga „Das achte Leben“ das 20.Jhdt. aus der Perspektive von acht georgischen Frauen nacherzählt; einem Jahrhundert, von dem sie schreibt, „das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften.“
Die Legende, der zufolge Georgien entstanden sein soll, geht so: „Gott teilte eines schönen, sonnigen Tages seine von ihm geschaffene Erde in Länder auf und veranstaltete einen Jahrmarkt, auf dem alle Menschen – um seine Gunst buhlend – sich lautstark überboten, in der Hoffnung, so das beste Fleckchen Erde abzukriegen. Nach einem langen Tag war die Welt aufgeteilt und Gott müde. Als sich die aufgeregten Menschen auf den Weg in ihre ihnen zugewiesene Heimat gemacht hatten, wollte sich der liebe Gott unter einem schattigen Baum ausruhen. Dort aber schnarchte ein Mann. Er hatte einen Schnurrbart und eine Wampe. Er war bei der Aufteilung nicht dabei gewesen und Gott wunderte sich. Er weckte ihn und fragte, warum er hier in aller Seelenruhe schlafe, während alle anderen ihn nahezu bedrängt hätten. Der Mann lächelte mild und meinte, dass er auch so zufrieden sei; die Sonne scheine, es sei ein herrlicher Tag, er hätte gut gespeist, Wein getrunken und ihn gepriesen. Weiterhin schmunzelnd fügte er hinzu: Außerdem habe ich einfach darauf vertraut, dass mir Gott schon was übriglassen würde. Der liebe Gott (natürlich der orthodoxe Gott und kein anderer) war außerordentlich beeindruckt von diesem Vertrauen und der Lässigkeit (sprich Faulheit und fehlendem Ehrgeiz) des Mannes und schenkte ihm deshalb das Land, das er für sich vorbehalten hatte.“
Fotos: Hostnig&Hammer
Ich glaube, es sind gerade diese von der Autorin in Klammer gesetzten ironischen Kommentare über ihre Landsleute, denen sie Konformismus und Opportunismus vorhält, weil sie – wie übrigens auch in meinem Heimatland Österreich – ihre Vergangenheit, in welcher sie Täter und Opfer waren, am liebsten verdrängen; dass sie in ihrem Herkunftsland kaum beachtet ist. Eine Publizistin aus Tbilissi, wie die Hauptstadt in der Landessprache genannt wird, wusste zwar von Ingeborg Bachmann, nicht aber von einer Autorin namens Nino Haratischwilis, welche die ganze verrückte Geschichte Georgiens von der Revolution über den Stalinismus bis zum Ende des Kalten Krieges in diesem großartigen Roman erzählt, den ich allen meinen Leserinnen oder denen, die eine Reise in dieses wunderschöne Land planen, nur wärmstens empfehlen kann.
Neubau einer orthodoxen Kirche mitten im Nowhere von Zugdidi
Der Legende jedoch ist kaum zu widersprechen. Georgien ist ein paradiesisch schönes Land; schon während der Reise haben meine Lebensgefährtin und ich uns gefragt, warum es uns so beeindruckt, dass wir es wieder aufsuchen wollen. Eine der Antworten aus vielen anderen möglichen ist, dass dieser Flecken Erde wie die Erinnerung an einen Ort aus dem Früher anmutet, wie wir ihn vielleicht noch aus den Kindheitserzählungen unserer Großeltern und Urgroßeltern kennen, Jahre vor den großen Kriegen des letzten Jahrhunderts in Europa, als noch – zumindest auf dem Land – die Zeiten herrschten und nicht die Könige, wie ein georgisches Sprichwort sagt. Fast möchte ich schreiben, als Tomaten noch nach Tomaten schmeckten und Bananen eine exotische Frucht waren, Menschen das Kreuz über der Brust schlugen, wenn sie eine Kirche sahen, schwarzgekleidete Frauen mit steinalten Gesichtern Hausgemachtes am Wegrand anboten und Scherenschleifer durch die Dörfer zogen, um ihre Dienste anzubieten … In Georgien findet man an vielen Ecken und unvermuteten Enden in zivilisationsfernen Landschaften oder auf kopfsteingepflasterten Wegen selbst mitten im Zentrum der Altstadt von Tiflis noch diese verlorene Zeit.
„Die vergessene Mitte der Welt“, wie Stephan Warkwitz in seinen architektur-philosophischen Betrachtungen – „unterwegs zwischen Tiflis, Baku und Eriwan“ – diese Brücke zwischen Europa und Asien geografisch einordnet, ist kein weltvergessener Winkel mehr, seit der postsowjetische Transformationsprozess mit atemberaubender Beschleunigung und unbestimmtem Ausgang vonstattengeht; die Zukunft klopft heftig an seine windschiefe Tür. Ob das Haus, in welchem sich so viel Geschichte angesammelt und konserviert hat, noch saniert und für die Nachwelt erhalten bleiben kann, wünscht sich jeder, der – von außen kommend – sich in seinen Räumen aufgehalten hat. Ob es ganz entkernt und vielleicht sogar abgerissen werden muss, weil entweder das Bewusstsein für seine Pracht und Schönheit, die sich noch oder gerade im bedrohten Zerfall zeigen, oder schlicht und einfach das dafür notwendige Geld fehlt, entscheiden in einer globalisierten Welt nicht allein seine Bewohner;
Ja, es ist ein Land an der Schwelle – geografisch zwischen Orient und Okzident, zwischen Schwarzem Meer und Kaspisee angesiedelt – seit jeher umkämpft; vielleicht schon, bevor Prometheus an einen kaukasischen Felsen geschmiedet worden ist und lange vor dem Raub des Goldenen Vlieses im sagenumwobenen Kolchis. Hier führte eine der vielen Routen der Seidenstraße, auf der schon Marco Polo reiste, bis nach China, das heute mit seinem Belt-and-Road-Vorhaben Georgien über Schienen- und Straßenwege, über den Ausbau seiner Schwarzmeerhäfen und einem 2018 wirksam gewordenen Freihandels-abkommen zum Vorposten auf dem Weg nach Europa und damit als Transport-Knotenpunkt zwischen Europa und Asien etablieren will. Ja, Georgien muss seine bedrohliche Isolation aufbrechen und sich nach den territorialen Verlusten von Abchasien und Ossetien sowohl nach dem Westen als auch nach dem Osten hin orientieren, um nicht wieder als Vasallenstaat eines russischen Großreiches, wie es Putin vorschwebt, seine mühsam und in blutigen Aufständen, Bürgerkriegen, Besen- oder Rosenrevolutionen errungene Selbstständigkeit zu verlieren.
Davit Gareja Höhlenklöster in Kachetien
Wenn es aber den Standortvorteil nur nützen kann, indem es sich dem verheißungsvollen Markt von 800 Millionen Menschen durch die Übernahme europäischer Standards öffnet, zB. Subsistenzwirtschaft, die noch heute die mitmenschlichen Austauschbeziehungen begründen, durch aggressives Agrobusiness ersetzt, wird das Land wie überall in kurzer Zeit verlieren, was es so sympathisch und anziehend macht; die Diversität an selbstangebautem Gemüse, Obst und Früchten, wie wir sie auf den lokalen Märkten gesehen haben, wird verschwinden und zurückbleiben wird industriell produziertes und kommerziell vermarktetes Junkfood. Um es wieder an einem Beispiel festzumachen: Die Tomaten werden weiterhin rot sein und saftig ausschauen, aber wir werden nur noch den Koreander schmecken, mit dem man sie würzt.
Markt in Tiflis
Als Reisende, Durchreisende wohlgemerkt, sehen wir eine Welt im Wandel und wünschen uns Dauer dort, wo die zerstörerischen Auswirkungen der Globalisierung noch nicht flächendeckend stattgefunden haben. Dass die Einbindung in den Weltmarkt Arbeitsplätze schaffen würde können, muss bezweifelt werden. Schon heute leben von den ca. 4 Millionen Einwohnern Georgiens mehr als eine Million im Ausland. Die zusammen mit dem EU-Assoziierungsabkommen 2017 erteilte Visafreiheit, welche „als die größte Errungenschaft unter dem Gesichtspunkt der europäischen und euroatlantischen Integration Georgiens“ (so der georgische Innenminister) gefeiert wurde, könnte wegen des Asylmissbrauchs und der kriminellen Diebesbanden, die ihre Landsleute in Misskredit bringen, demnächst wieder aufgehoben werden. Asylanträge werden nur in seltenen Fällen (interessantes Dokument eines Prozederes zur Gewährung von Asyl) ausgestellt.
Es ist ein Zeitfenster, das sich allen Besuchern Georgiens aufmacht, wenn sie den Blick auf das oft surreal erscheinende Stelldichein und anachronistische Nebeneinander von nahezu vorindustriellen, wenn nicht archaischen und gleichzeitig modernen Lebensweisen werfen, die sich in der Architektur, dem byzantinisch geprägten orthodoxen Christentum mit seinen unzähligen Kirchen und Klöstern, einer eigenständigen ornamentalen Schrift und einer Sprache spiegeln, die mit 33 Phonemen kein Geschlecht kennt.
Ushguli in Svanetien
In den bis vor wenigen Jahren noch touristisch nicht erschlossenen und vor allem in den langen Wintermonaten von der Außenwelt isolierten Bergregionen Svanetiens und Tuschetiens im Hohen Kaukasus leben die Menschen in mittelalterlichen Dörfern mit 30 m hohen. tausend Jahre alten Wehrtürmen nach alten Stammestraditionen; Blutrache und Familienfehden über Generationen, Brautraub, ein heidnisch gepflegtes Christentum und das nach dem Zerfall der Sowjetunion in den aufgelassenen Siedlungen um sich greifende Banditentum krimineller Gangs waren an der Tagesordnung. Heute kann der vor allem in Mestia sichtbare Tourismusboom das Überleben derer sichern, die noch nicht in die großen Städte abgewandert sind. Auch hier kann – wer nicht nur Augen für die landschaftlichen Reize der umgebenden Landschaft hat, es gutheißt oder sich über die zerstörerischen Auswüchse empört – der Übergang von bäuerlicher Selbstversorgung mit einer schiefersteinalten Ordnung, deren weithin sichtbare Zeichen die im 10. Jhdt. kunstvoll errichteten und allen Katastrophen bis heute trotzenden Wehrtürme bleiben, in eine durch staatliche Eingriffe kaum regulierte und weniger am Gemeinwohl als am Profitdenken ausgerichtete Marktwirtschaft anschaulich wahrgenommen werden.
Adishi in Svanetien
Zurück in die Vergangenheit, deren ständige Gegenwart uns an die Dauer im Wandel erinnert und nicht nur in den Wehrtürmen des hohen Kaukasus im Nordwesten und den Höhlenklöstern der Halbwüste im äußersten Südosten des Landes Zeugnis von Bau- und Überlebenskunst seiner Bewohner ablegen. Die Besiedlung dieser Region an der Schnittstelle zweier Kontinente hat – wie archäologische Funde in Dmanisi belegen, schon vor unglaublichen 1,8 Millionen Jahren stattgefunden. Übrigens die ältesten Fossilienfunde von Hominiden außerhalb Afrikas.
Funde aus Kolchis im Nationalmuseum
Die geostrategische Bedeutung dieser Landbrücke zwischen zwei Kontinenten, aber auch die Fruchtbarkeit seiner Böden, der Wasserreichtum und auch seine Bodenschätze, vor allem Gold, Silber und Eisenerze, haben schon sehr früh die Begehrlichkeiten seiner Nachbarn geweckt. Aus dem Zusammenschluss kleiner Königreiche aus dem Tiefland von Kolchis und Iberien hervorgegangen, wurde das Territorium 66 v. Chr. vom römischen Feldherrn Pompejus erobert und war im 4. Jhdt. nach Chr. Teil des oströmischen Reiches. Als einer der ersten Länder dieses Erdteils schon 334 n. Chr. christianisiert, blieben bis auf Tiflis, das 736 Hauptstadt eines arabischen Kalifats und für Jahrhunderte die einzige muslimische Stadt im Kaukasus war, alle Islamisierungs-versuche erfolglos; im Gegenteil führte die arabische Herrschaft dazu, dass sich die georgische Kirchensprache auch im Volk durchsetzte. Bis auf seine Blütezeit unter David IV dem Erbauer und Königin Tamar im 10.Jhdt. bis 12.Jhdt., der die Georgier heute noch nachweinen, wurde es in der Folge zuerst von den mongolischen Horden Tamerlans überrannt, dann vom persischen und später vom ottomanischen Großreich dominiert, bis es schließlich 1801 vom zaristischen Russland annektiert wurde. Nach einer kurzen Periode erkämpfter Unabhängigkeit und der Ausrufung der demokratischen Republik Georgiens im Jahr 1918, geriet es in den Sog der bolschewistischen Revolution und blieb bis zum Zerfall der Sowjetunion einer seiner Vasallen- und Satellitenstaaten im sogenannten Ostblock.
Im obersten Stock des Nationalmuseums auf dem Rustaveli-Boulevard in Tiflis wurde der Versuch unternommen, den von Stalin und Berija, Organisator der TscheKa (Vorläufer des KGB), auch das graue Scheusal genannt, den in ihrer Heimat ausgeübten Terror mit der Installation tonnenschwerer Stahltüren aus Gefängniszellen als Symbol für Unterdrückung und Willkür zu veranschaulichen. Eine Zeit, die Nino Hataschwilis in ihrem Roman „Das achte Leben“, um noch einmal auf ihn zurück zu kommen, so beklemmend beschreibt.
Auch wenn der Kult um Stalin bis auf das in seiner Heimatstadt Gori von Berija wenige Jahre nach seinem Tod in Auftrag gegebene Museum sich in Grenzen hält und wir keine überlebensgroßen Statuen gesehen haben, wie etwa von Mao überall in China, scheint es eher ein Ort seiner Verehrung, erbaut in der kaukasischen Variante des Zuckerbäckerstils mit Marmortreppen, pinkfarbenen Wänden, einer Totenmaske, Zigarren und.„A creepy attraction that still worships the communist leader like a god”, wie ein Blogger titelt.
Plattenbau aus der Breschniew-Ära
Da die Spuren dieser Epoche, von der sich das Land bis heute nicht wirklich erholt hat, aber auch von früheren, vor allem in seiner Hauptstadt sichtbar sind, die wie selten eine andere mehr als zehn Mal im Laufe seiner Geschichte gebrandschatzt, geplündert, von Erdbeben heimgesucht und zerstört worden, aber immer wieder aufgebaut und von seinen Bewohnern neu erfunden worden ist, will ich dich einladen, mit uns einen Spaziergang durch diese einzigartige Stadt zu machen, die einmal das Paris des Kaukasus genannt wurde.
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Erny Menez
Posted at 10:55h, 10 SeptemberSoeben meine Kommentar abgeschickt, mein Name ist „nicht mehr bekannt“, deshalb war mein Kommentar „anonymous“ ? Danke, ERNY
Anonymous
Posted at 10:51h, 10 SeptemberJetzt lese ich deinen Bericht nochmals in Ruhe und ich würde am liebsten aufbrechen und mir dieses Land ansehen, so original und interessant une vielseitig ist es ! Auch die Fotos sind so schön.
Kerstin Mayer
Posted at 08:32h, 02 AugustWow Helmut, ihr macht wirklich immer sehr individuelle und tolle Reisen. Bin schon auf weitere Geschichten aus Georgien gespannt!!
LG Kerstin