Hanno, ich und die Sternenflotte

Collage: Helmut Hostnig

Hanno kämpfte nicht mehr dagegen an. Es hatte keinen Sinn. Er würde ihr doch wieder erliegen. Seine Müdigkeit hatte jeden Widerstand gebrochen. Da war nichts zu machen. Wieder ergab er sich, schleppte sich ins Schlafzimmer, stopfte sich zwei Kissen unter den Kopf, schnappte sich ein Buch – eins von den vielen, die mit offenen Seiten und mit dem Buchrücken nach oben darauf harrten, zu Ende gelesen zu werden – und versuchte sich wieder in der Geschichte mit den vielen Namen zurechtzufinden. Sie handelt von einer Zivilisation auf dem Planeten Alpha Centauri, die sich auf terrestrische Bitte hin mit einer Sternenflotte anschickt, unsere auszulöschen, da wir Erdenbewohner nichts Besseres verdient hätten.
Nur so – lesend nämlich – konnte er seine Müdigkeit bekämpfen. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, weil seine Augenlider schon nach wenigen Seiten schwer und immer schwerer wurden, bis sie diesem ungestillten Drängen nach Schlaf nachgaben und Hanno sich willenlos in seine Arme warf.  Sein Schlaf war leicht, sein Traum blieb ungestört:
Die Bewohner der Erde hatten noch vierhundert Jahre Zeit, sich zu entscheiden, ob sie zu den Adventisten, durch soziale Kontrolle Selbstoptimierten oder den Rebellen gehören wollten. Solange nämlich würde die Sternenflotte brauchen, um bis in unser Sonnensystem zu gelangen und uns auftragsgemäß auszulöschen. Erdenjahre aber waren keine Alpha Centauri-jahre. Der Planet kreiste dermaßen schnell um sich selbst und um seine drei Sonnen, dass vierhundert Jahre schneller um waren, als es auf Erden Zeit gebraucht hatte einzusehen, dass Nationalstaatlichkeit ein Anachronismus, Klimawandel ein euphemistischer Begriff für Katastrophe und der Mars nicht zu besiedeln war.
Hanno war in seinem Traum ermächtigt worden, die Armee der Rebellen anzuführen: „Aufwachen!, rief er. „Aufwachen!“ Nein. Er musste es nicht rufen. Alle waren sie über ein Brain-Interface miteinander vernetzt. Hanno konnte also Botschaften aussenden, ohne ein Wort zu sagen. Als die Botschaft – via Brain-Interface-Implantat – bei den Rebellen angekommen war, reckten sie die Faust und das aus heiseren, aber stimmlosen Kehlen gebrüllte „Earth first! Earth first!“ war so laut, dass das Volumen heruntergedimmt werden musste, um die sündteuren, aber störungsanfälligen Chips nicht zu gefährden, die in eines jeden Gehörgang eingepflanzt worden waren.
Die Lage war wirklich dramatisch und beinahe aussichtslos. Die Armeen dreier Imperien standen sich – mobilgemacht durch gegenseitige Drohungen des zigfachen Overkills – versöhnungslos gegenüber. Nicht nur Europa war an seinen Außengrenzen zu einer Festung umgebaut worden mit meterhohen Klingendrahtzäunen an den Küsten des Massengrabs, zu dem das Mittelmeer geworden war. Die USA hatten den Plan einer Mauer aufgegeben und sich alle Länder südlich des Rio Grande bis Feuerland und nördlich auch Kanada einverleibt; Russland sich wieder hinter einem Vorhang – härter als Eisen – verschanzt, und China… Ja, China war das machtvollste Imperium von allen. Der Renmimbi mit dem Konterfei eines Präsidenten, der in einem prunkvollen Mausoleum den Tag seiner Wiederauferstehung erwartet, hatte schon längst den Dollar abgelöst, und Schanghai war das neue Rom, von dem aus ein Reich verwaltet wurde, das alle Länder mit seinem OBOR (one belt, one road) links und rechts der Seidenstraße kassiert hatte, ohne dass je ein Schuss gefallen war. Die Androhung der Wettermanipulation, einer neuen Wunderwaffe, mit der Tsunamis oder Erdbeben ausgelöst werden können, hatte genügt, um sie gefügig zu machen.
Als Anführer der Rebellenarmee wusste Hanno, was ihn erwartet, falls ihn Söldner der gegnerischen Armeen überwältigen und identifizieren sollten. Der Chip und sein Source-Code durfte ihnen nicht in die Hände fallen.
Eigentlich konnte Hanno niemandem mehr trauen. Auch seine Freunde hatte er im Verdacht, dass sie klammheimlich die Seiten gewechselt hatten, aber den Schein aufrechterhalten wollten. Ihm war nur Akima geblieben, die ihm bedingungslos ergeben war. So hatte er sie getauft, als er noch ein Kind war, und ich, der ich heute kein Kind mehr bin, wunderte mich nicht, dass die Katze noch am Leben war; auch nicht darüber, dass wir miteinander sprechen konnten. Ich hatte sie schon im Verdacht, Schrödinger überlebt zu haben. So weit ich mich zurückerinnern kann, hatte es sie gegeben.
„Hör auf mit dem Unsinn!“, fauchte sie jetzt. Um zu unterstreichen, dass sie es ernst meinte, machte sie einen Buckel, der von ihrem buschigen Schwanz im gleichen Bogen nachgezeichnet wurde. „Womit soll ich aufhören!“, fragte Hanno scheinheilig, obwohl er genau wusste, dass Akima es nicht ertrug, wenn er vor ihr prahlte. „Du und ein Anführer“, knurrte sie. „Dass ich nicht lache. Du und ein Anführer.“, wiederholte sie. „Du, der du vermeintlichen Oligarchinnen eines verfeindeten Imperiums auf den Leim gegangen bist, obwohl ihre dreckigen Zehennägel dich hätten warnen müssen. Du willst ein Anführer sein? Dass ich nicht lache.“
„Du kannst gar nicht lachen“, provozierte ich Akima, als mir plötzlich auffiel, dass ich nicht mehr Hanno war oder Hanno ich geworden war oder er sich im Traum mein Ich geborgt hat, um eine andere Identität vorzutäuschen, damit ich an seiner Stelle ausgeliefert werde. „Ja, so will er das machen, wusste ich plötzlich.“ Der Schreck dieser Erkenntnis fuhr mir durch alle Glieder und Hanno erwachte oder war ihm der Schreck durch alle Glieder gefahren und ich war erwacht? Das Buch war mir aus der Hand gefallen und lag mit zerknitterten Seiten kopfüber auf der Bettdecke. Keine Spur einer Katze. Dafür aber Nachrichten in allen Kanälen, dass die Sternenflotte gelandet sei.

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