Kopfgeburt

Ich muss zugeben, beginnt er, dass ich ihr Manuskript bis auf die ersten Zeilen nicht gelesen und mich schon nach diesen gefragt habe: Was soll das werden? Eine psychoanalytische Fallstudie für Väter von Kuckuckskindern geschrieben im Stile Kohalets? Eine Bibelexegese? Es begab sich aber …  –  wie das schon beginnt? Ein Screen-play? Wer soll das lesen? Der Verlagsassistent, dessen hoher Schläfenansatz vermutlich nicht nur Belesenheit, sondern wirkliches Wissen in seinem Aufgabenbereich signalisieren soll und auf keinen Fall den Eindruck erwecken will, dass der diffuse Haarausfall dem Eisen- und Zinkmangel geschuldet ist, knallt das Manuskript auf die kastanienbraune Tischplatte. Eine Geste, die dem Kunden Tatkraft, Dynamik oder sonst eine der Eigenschaften, die das Anforderungsprofil seines Berufes unter Beweis stellen, oder ihn sogar einschüchtern soll, aber bei eben diesem Kunden schon des großen Altersunterschiedes wegen fehl am Platze war. Überhaupt. Was erlaubt sich dieser auf ihn losgelassene Assistent eigentlich? Warum lässt sich der Verleger, den er persönlich angeschrieben hatte, ohne je eine Antwort erhalten zu haben, durch diesen kaum der Pubertät entwachsenen Buben vertreten? Darf ich sie daran erinnern, sagt er, schon wieder im Stehen und bereit, das im Stil einer Zahnarztpraxis eingerichtete Vorzimmer in der Absicht zu verlassen, wutentbrannt die Türe hinter sich zuzuknallen, – darf ich sie daran erinnern, dass es nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehört, Manuskripte nach ihrer Tauglichkeit für das Verlagsprogramm zu beurteilen, sondern sie gemäß ihrer nicht leitenden Position nur dafür zuständig sind, mir vielleicht einen Kaffee anzubieten. Das hatte gesessen. Er schnappt sich das Manuskript, macht auf seinem Absatz kehrt, geht zur Tür und knallt sie hinter sich zu. Nachdem er diesen etwas zu dramatisch gestalteten Auftritt und Dialog in seinem Kopf zu einem ihn befriedigenden Ende gebracht hatte – immerhin war es ihm gelungen, die andere Stimme mit einem wenig sympathischen Gesicht auszustatten -, nahm er einen neuerlichen Anlauf und setzte die begonnene Geschichte fort, ohne sich weiter beirren zu lassen. Kurz zusammengefasst handelte die Geschichte von einem, der auf der Suche nach seinem Vater war, ihn findet und sich wünscht, ihm nie begegnet zu sein.

Der Verleger schien freundlich gestimmt. Das schloss er aus der Tatsache, dass er ihm einen Termin eingeräumt hatte, obwohl er ständig unterwegs war, aber auch, weil das Manuskript auf dem mit Intarsien geschmückten Tisch lag und schon auf der ersten Seite Randnotizen enthielt. Er hatte die Hände auf die kurzen Arm Teile eines frei schwingenden Polsterstuhls gelegt und war sichtlich darum bemüht, die Distanz zwischen ihm und seinem Bittsteller – und jeder, der das Büro betrat und ihm gegenüber auf dem Stuhl Platz nahm, war ein Bittsteller – durch joviale Gesten und einladender Rhetorik zu verringern. Er habe das Manuskript im Zug gelesen. Er habe schon lange kein Auto mehr, weil er im Zug sitzend und kreuz und quer durch Europa reisend -, alle liegen gebliebene Arbeit erledigen könne, ohne durch Anrufe gestört zu werden. In einem Zug habe ich die Geschichte nicht gelesen, obwohl sie kurz ist, Ich hoffe, sie nehmen mir den kleinen semantischen Scherz nicht übel. Das aber war seine Absicht, ihm unmissverständlich klarzumachen, dass diese Geschichte nicht veröffentlicht würde. Nicht von seinem Verlag. Nirgends. Er entschuldige sich für seinen Assistenten, der manchmal weit über seine Befugnisse hinaus Entscheidungen treffe oder Aussagen tätige, die er nur wieder mit großen Mühen korrigieren könne. Nun aber zu ihrem Manuskript, hob er an, als besagter Assistent das Büro betrat, den Autor mit keinem Blick würdigte und hinter den massiven Tisch ging, um seinem Chef etwas ins Ohr zu flüstern, worauf sich dieser erregt erhob, ein paar Worte der Entschuldigung murmelnd und gefolgt von seinem Assistenten an ihm vorbei rauschte und ihn im überdimensioniert großen Raum zurückließ.
Der Verleger kam in sein Büro zurück und war so überrascht, dass er noch in der Türe stehen blieb. Nie hätte er auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass jemand, dem er leichtsinnigerweise, wie er sich jetzt eingestehen musste, Audienz gewährte, nicht nur viele Stunden in seinem Büro ausharrte, sondern obendrein sich sogar anmaßte, in seinem mit schwarzem Leder gepolsterten Stuhl Platz zu nehmen. Was ihm aber ganz den Atem verschlug, war, dass er ihn von dort aus mit lässiger Gebärde einzutreten einlud, wobei er auf den Stuhl mit der harten Lehne zeigte, der gegenüber dem massiven Schreibtisch so verloren wirkte, wie es seine choreografische Absicht war. Nicht genug damit, war er gerade damit beschäftigt, sich eine Cohiba-Zigarre aus seinen wertvollen Beständen mit einem Zedernholzspan anzuzünden und den Rauch genüsslich in das großräumige Büro zu paffen, indem er den Luftkringeln nachschaute, die er – wohl nur zu seiner eigenen Belustigung – so in den Raum blies, dass sie von seinem Standpunkt aus, ihn, den Verleger, in einem grauen Oval einzurahmen verstanden. Das war zu viel. Er wollte auf ihn losstürmen und schreien, oder wollte er schreien und auf ihn losgehen? Er wollte beides gleichzeitig, aber weder kam ein Schrei von seinen Lippen, noch konnte er einen Fuß vor den anderen setzen. Wie gelähmt stand er da: Der Mund halb geöffnet, die Nasenflügel bebend, die Augen mit einem Blick, dem noch etwas vom Staunen anhaftete, während schon Zorn sich in ihm breit machte, als er plötzlich – und zwar so plötzlich, dass er nicht wusste, wie ihm geschah -, erkannte, wer da seinen Platz eingenommen hatte.
Stefan schmunzelte, als er ihn so ratlos dastehen sah, hielt die Flamme eines zweiten Zedernholzspanes wieder dicht ans Brandende der Zigarre, drehte sie im Mund, bis sie rundherum glühte, während er mit der linken Hand den Klapprahmen mit dem Foto seiner Mutter in die Richtung des Mannes drehte, der noch immer auf der Schwelle zu seinem Büro stand, als wäre er dort von Zauberhand eingefroren worden.
Hast du mich also doch noch gefunden, sagte dieser, als er sich – noch immer kreidebleich – von seinem Schrecken erholt hatte. Was willst du von mir? Geld? Kannst du haben. Wie viel? Sind 5000 genug? Er zog sein Portemonnaie aus den Falten seines Überrockes und ging ein paar Schritte auf die Mitte des Zimmers zu. Als er Stefan nur lächeln sah, erhöhte er auf 7000. Dann auf zehn. Dann gab er auf, ließ sich schwerfällig in den Stuhl fallen, schlug die Beine übereinander und sah seinen Sohn herausfordernd an. Stefan deutete auf das Manuskript. Ach, darum geht es dir also? fragte sein Vater erleichtert, der dieses Angebot gerne annahm und schnell wieder in die ihm zugedachte Rolle des Verlegers schlüpfte; Eine Rolle, in welcher er sich sichtlich wohler und selbstsicherer zu fühlen schien.
Es tut mir leid, aber das ist weder eine Geschichte, noch kann daraus eine werden. Schreiben, solltest du wissen, ist wie hassen ohne Gewalt oder leben in erfundenen Wirklichkeiten. Du aber schreibst, als würdest du etwas sagen wollen, es aber nicht meinen. Das ist wie Fliehen ohne Angst und sich freuen ohne Grund. Es ist sinnlos. Nein: Nicht sinnlos. Es ist wie Totschlagen von Zeit, die du zwar hast, aber nicht nutzt. Nein: Auch das nicht. Es macht mich schlicht wütend, wenn eine Geschichte nur so tut, als wäre sie eine.
Der Regen hatte aufgehört. Stefan begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Das tat er immer, wenn er keinen Ausweg wusste. Früher, als er noch rauchte, hatte er sich eine Zigarette angezündet und dann die nächste und die übernächste. Selbst wenn die Geschichte nur so tut, als wäre sie eine, wie der Verleger behauptet, den er auch noch zu seinem Vater gemacht hatte, so ist es trotzdem eine Geschichte, spann er im Kopf den Dialog weiter. Warum aber verteidige ich mich? Warum sage ich nicht einfach, dass mich seine Meinung überhaupt nicht interessiert? Warum sage ich ihm nicht aufs Gesicht zu, dass ich es satthabe, mich ständig durch einen erfundenen Verleger zensurieren zu lassen? Das ist die Lösung. Er setzte sich wieder vor das Keyboard, das ein wesentlich schnelleres Anschlagen der Tasten zuließ, als es noch auf der Schreibmaschine der Fall war, änderte die von ihm beanstandeten Zeilen, indem er sie löschte und überschrieb, und gab so der Geschichte binnen weniger Minuten eine gänzlich neue Wendung. Jetzt nämlich war der Vater auf der Suche nach seinem Sohn und dieser freute sich, von ihm entdeckt und gefunden worden zu sein.

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2 Comments
  • Karl Schiemer
    Posted at 21:58h, 02 Februar Antworten

    Du ewig Suchender!
    Sehr schön, finde ich, vor allem, wie die Kulisse am Schluss in den Kopf fließt.

    • Helmut Hostnig
      Posted at 13:19h, 03 Februar Antworten

      Lieber Karl.
      Danke fürs Kommentieren. Bezieht sich dein Kommentar auf “Kulissenwechsel” oder auf “Kopfgeburt”?

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