Der erfundene Traum

Es war einmal ein Herrscher. Er ging als Hassada II in eine nie geschriebene Geschichte ein, war von schlichtem Gemüt und ebenso grausam, wie sein Vater es gewesen war. Nicht grausamer also wie alle die Herrscher vor ihm und sicher nicht weniger als die, die ihm nachfolgen würden.

Hassada II war groß. Er überragte alle seine Untergebenen, die schon dieser körperlichen Größe wegen zu ihm aufschauen mussten. Das Auffallendste an ihm war sein langer Hals, der einen im Vergleich zu seiner Körpergröße kindlich kleinen, dafür aber recht kantigen Kopf trug. Seine Augen konnten dreinschauen wie ein Basset, der nichts anderes getan haben will als das, was seine Natur ihm aufgegeben hat. Sein Volk, aber auch der Teil seines Volkes, der gegen ihn Krieg führte, sprach immer nur von der Giraffe, wenn von ihm die Rede war. Er zeigte sich selten in der Öffentlichkeit. Für seine Allgegenwart aber sorgten überall überlebensgroße Abbildungen, die ihn im Anzug und staatsmännischer Pose zeigten. Selbst Gesichtsblinde konnten ihn, wenn schon nicht am Portrait, das in allen Schulen, Kasernen oder Ämtern hing, an den überdimensionierten Goldrahmen erkennen. Ganz abgesehen von den meterhohen Statuen, die auf beinahe allen Verkehrsinseln und öffentlichen Gebäuden der größeren Städte aufgestellt waren. Um sich in das Gedächtnis aller Menschen und nicht nur in das seines Volkes einzuschreiben, hatte er begonnen, Nachbarländer zu überfallen und die Grenzen seines Reiches so auszudehnen, wie sie in Atlanten vor hundert Jahren eingetragen waren.

Je länger diese Kriege andauerten, umso heftiger wurden seine Träume, wenn ihn nicht Schlaflosigkeit wachhielt, was immer öfter vorkam. Die Tatsache aber, dass er immer den gleichen Traum träumte, ohne sich an ihn erinnern zu können, brachte ihn so auf, dass er schier nicht mehr wusste, an wem er seine Wut auslassen sollte. Er befahl seine Seher zu sich und eröffnete ihnen, dass er demjenigen, der ihm den Traum der letzten oder kommenden Nächte erinnern helfen und auch noch deuten könne, seine Tochter zur Frau geben würde; wenn er es aber nicht vermöchte, noch am selben Tage sein Leben lassen müsse. Diese Vorgangsweise hatte er aus Märchen entlehnt, die seine einzige Lektüre waren.
Niemand hatte zwar seine Tochter je gesehen, aber es hieß, dass sie sehr, sehr schön sein solle und trotz der Tatsache, aus den Lenden dieses blutrünstigen Diktators gezeugt worden zu sein, ein sanftes Wesen habe.
Die Tage verstrichen, aber niemand wollte sich zu solch kühner Tat melden. Die Giraffe wurde von Tag zu Tag paranoider. Die weltweite Pandemie wütete auch in seinem Reich, und er wusste nicht, wie er sich gegen das Virus schützen sollte, außer jeden Kontakt mit Untergebenen zu vermeiden. Er ließ sich einen 10 Meter langen Tisch bauen. Seine Ratgeber und die wenigen Besucher aus den Ländern, die ihm die für seine Kriege notwendigen Waffen lieferten, mussten am anderen Ende des Tisches Platz nehmen. Bedient wurden sie von Robotern. Allen war aufgefallen, dass die Giraffe nicht sehr gesund aussah. Er hatte ein aufgedunsenes Gesicht, aus dem nichts mehr abzulesen war. Weder Wut noch Freude. Weder Trauer noch Anteilnahme. Als würde er eine Maske tragen. Der grollende Unterton in seiner Stimme aber verriet seine Gemütslage. Er hatte nichts mehr unter Kontrolle.
Nicht einmal an meine Träume erinnere ich mich, klagte er laut, wobei er ruhelos im Saal auf und ab ging und den langen Tisch umkreiste.  Wenn die Nacht kam, befahl er einem seiner Diener ihn sofort aufzuwecken, wenn sein Schlaf unruhig sein würde und den Traum sofort niederzuschreiben, aus dem er aufgewacht war. Aber immer war es dasselbe. Gerade noch wusste er, wovon er geträumt hatte, aber schon im Aufrichten aus den schweren Kissen war der letzte Traumfetzen verflogen. Das ärgerte ihn so, dass jeden Morgen ein anderer Diener seinen Zorn darüber zu spüren bekam und je nach Laune entweder ausgepeitscht oder dem arabischen Roulette ausgeliefert wurde. Zum Schluss wagte es niemand mehr ihn aufzuwecken, was in den Augen des Herrschers als besondere Feigheit galt.

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