15 Feb Das letzt Ma(h)l
Das letzte Ma(h)l
Einmal, da hatte er kein Problem. Keins, mit dem er unter die Leute hätte gehen können; an die Stammtische seiner Freunde, die ihn nur mit Problemen kannten; die er seit Jahren mit seinen Leiden unterhalten, die er noch nie enttäuscht hatte. Sie schätzten ihn, denn er verstand es wie kaum ein andrer, selbst einen einfachen Liebeskummer oder eine kleine Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten so zu dramatisieren, dass keiner sicher sein konnte, ihm je wieder zu begegnen. Wo andere eine Krawatte tragen, würgte ihn ein unsichtbarer Strick. Er schien aus einem nie versiegenden Schmerzensquell zu schöpfen und an Selbstzweifeln so zu nagen, dass ihn schon ein von ihm falsch interpretierter Blick völlig aus der Bahn werfen konnte. Natürlich lieferte auch der Zustand der Welt, selbst der fernsten, ihm Gründe genug, seinen persönlichen Zustand zu rechtfertigen. Und der war nicht nur bemitleidens-wert, sondern erbarmungswürdig. Zuerst wollte er seinen Vater verantwortlich machen, dann das System. Bis er herausgefunden hatte, dass es zeitgemäßer war, das Kreuz selbst zu tragen. In der Jugendsprache von heute, würde er keinen Namen haben: „Opfer“, würden sie ihn rufen, und damit alles sagen, was über ihn zu sagen war. Aber lassen wir ihn selbst sprechen:
Da ich seine Identität nicht preisgeben will, aber davon ausgehe, dass IHM jemand das stecken wird, was ich dir jetzt erzähle, bleibe ich beim unpersönlichen ER. Ich will IHM ja keine Probleme machen, jetzt, wo er plötzlich keine mehr haben will. Jetzt, wo er verschwunden ist. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei seinem Zustand. Wenn ihm der Augenblick keinen Grund lieh, in eine bodenlose Depression zu stürzen, erinnerte er sich des Unheils, das ihm einst widerfahren war, wurde fündig in den traumatischen Erfahrungen seiner Eltern-Kind-Beziehung oder rief sich eine lieblose Kindergartentante ins Gedächtnis. Wenn alles nichts half und IHM ein Anflug von Zufriedenheit drohte, gedachte er der besonders schmerzhaften Trennung von seiner letzten, vorletzten oder vorvorletzten Frau. Überhaupt dankte er seine Leidensfähigkeit vor allem Frauen. Das muss jetzt aber unter uns bleiben: Wenn er jemals geliebt haben sollte, dann war es sicher eine Frau, die schnell herausfand, was ihm fehlte und den Leidensdruck erhöhte, damit seine Klagen nicht jeder Grundlage entbehrten. Wenn er je verliebt war, dann in sein Pech. Ich darf ein bisschen zynisch werden. Ich bin sein Freund. Jedenfalls hält er mich für einen seiner besten Freunde, wenn nicht den besten. Soll er es glauben. Übrigens: Ich heiße Peter. Ja, seine Freunde. Sie schätzen ihn sehr. Ganz im Ernst. Er weiß sie mit seinen Problemen zu unterhalten, und die wurden immer unlösbarer, aussichtsloser. Mit einer Stimme wie von jenseits der Gräber versuchte er uns seine Seelenqualen nachvollziehbar zu machen, und das mit Seufzern, die uns den Abgrund ahnen lassen sollten, an dessen Rand ihn ein mitleidloses Schicksal gerade wieder geführt hat. Nein, ich beschreibe keinen klassischen Masochisten. Das hat er nicht verdient, dass man ihn in diese Schublade steckt. Ich habe ihn nämlich in Verdacht, dass er mit dieser Rolle nur spielt. Und das schon länger. Wie ich darauf komme? Ja, hast du ihn denn heute Abend nicht erlebt? Entschuldige, hab ganz vergessen, dass du ja nicht dabei warst. Ich glaube, er hat es geschafft. Er hat sich seiner Rolle entledigt, sie ab- und weggeworfen wie einen Pullover, in den die Motten geraten sind, und es war ihm völlig gleichgültig, ob man ihn so noch mag oder nicht. Ja, das Risiko ist er eingegangen. Respekt. Respekt. Denn er war beliebt. Ich lüge nicht. Schon deshalb beliebt, weil es ihm ja immer gelungen war, seine Freunde zu beschämen, wenn sie ihre Probleme preisgaben. Es tröstete sie immer zu wissen, dass im Vergleich zu seinen, ihre Probleme zu Hügeln in den Voralpen schrumpften, während er schon wieder einen K2 bezwungen hatte. Eigentlich genügte es, ihn anzuschauen, um sich seiner eigenen Überlebens-fähigkeit zu vergewissern. Die aristokratische Blässe, die er sich angekränkelt hatte, der zustandegehetzte Blick, die ausgezehrten Wangen, die Art, wie er unablässig seine Schläfen massierte, mit seiner rechten Hand immer wieder die Augendeckel schloss, oder sich mit gespreizten Fingern durchs Haar fuhr, das alles machte ihn bis gestern Abend zum unbestrittenen Mittelpunkt, wo immer sich Problemkreise zusammenfanden. Wir werden sehen, ob es nur ein Ausrutscher war, etwas, womit er sich wieder zurückmelden wollte, oder sich tatsächlich abmelden als der Schmerzensmann, den wir an ihm so bewundert wie bedauert haben. Falls er wieder auftaucht. Denn er ist verschwunden. Einfach nicht mehr auffindbar.
Gestern Abend zeigte er sich von einer Seite, die alle überrascht hat, und ich muss zugeben, vor allem mich, der ja glaubt, ihn am besten zu kennen. Seine früher so dünne, fast geisterhafte Stimme, die etwas Unnatürliches hatte, so als würde er auf einer Bühne stehen und in ein Publikum sprechen, obwohl sein Gesicht dabei fast ausdruckslos blieb, war einer festen, selbstbewussten und bis in den hintersten Winkel hörbare gewichen. Dazu kam, dass er lauthals lachte. Ja, er lachte und das nicht deshalb, weil er sich über den Bierernst und die sauertöpfischen Mienen der Anwesenden lustig machen wollte, die gekommen waren, sich mit seinen Problemen über die ihren trösten zu lassen. Ich glaube, er lachte, weil er an diesem Abend Abschied nahm von unserer Runde. Es war kein geselliger Abend: beileibe nicht, aber einer, den wir alle noch lange erinnern werden; da bin ich mir sicher. Er lachte, weil…
Lass mich weitererzählen, Peter, ok? Das interessiert keinen. Außerdem war sein Lachen ja nicht der Auslöser für das, was passiert ist. Da gibst du mir doch Recht, oder? Du magst vielleicht aus deiner Sicht sein bester Freund sein, ich aber bin sein adoptierter Sohn. Hat er zumindest gesagt, stimmt’s? Ich bin neben ihm gesessen, wie immer. Habe also alles aus unmittelbarer Nähe erlebt und bin somit ein glaubwürdigerer Zeuge als du. Außerdem könntest du ruhig ein wenig respektvoller von IHM sprechen, Peter. Hätte er sich nicht für dich verbürgt, würdest du heute im Knast sitzen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Aber das nur nebenbei. Mein Name ist Johann. Ich bin der Jüngste und gehöre auch zu dieser Runde. War von Anfang an dabei. Von diesem Abend wird es – glaub mir – so viele unterschiedliche Versionen geben, wie wir anwesend waren; davon bin ich überzeugt. Meine ist die:
Gestern hat sich ein Neuer eingefunden. Ich weiß nicht mehr, wer ihn mitgebracht hat. Auch seinen Namen weiß ich nicht mehr. Eines aber steht fest: Er hat die Runde mit seinem ersten Auftritt aufgemischt. Wohl um die Aufnahmebedingungen zu erfüllen, sicher aber auch, um dem ohne Statuten und inoffiziell gewählten Vorstand unseres Vereines zu imponieren. Er war aufgestanden, hat mit bedächtigen Bewegungen das Hemd an den Armen hochgekrempelt, und der verdutzten Runde – noch immer wortlos – die kaum vernarbten Wunden seines kürzlich unternommenen, aber wieder missglückten Selbstmordversuches gezeigt. Als wäre das genug und als hätte er nun alle Bedingungen erfüllt, um von uns und unserem Vorstand in die Runde aufgenommen zu werden, setzte er sich wieder ebenso wortlos auf seinen Platz, wie er aufgestanden war. Wir waren zwar schon allerhand gewohnt, aber das war mehr als peinlich.
Noch in derselben Nacht hat sich aber herausgestellt, dass er ein Spion war, der unsere Runde und vor allem ihn ans Messer liefern wollte. Weißt du, einer von der Sorte, der mit dir anstößt, an den richtigen Stellen weint und lacht, und tut, als wäre er um dein Wohl besorgt, in Wirklichkeit aber deine Schwachstellen sondiert, um im richtigen Augenblick zuzuschlagen oder feige, wie er war, andere für ihn zuschlagen zu lassen.
Plötzlich war aus dem heiteren Nichts eine immer wilder werdende religiöse Debatte über die Bedingungen entbrannt, unter welchem Himmel, Paradies oder Heimat aufzufinden wären oder die Hölle zu verorten, als der Neue – die Tischdecke mit sich reißend – brüllte: Und die Vorhölle? Was ist mit der Vorhölle?
Du wolltest wissen, wie der Abend ausgegangen ist, stimmt’s? Na, was glaubst du? Haben wir uns friedlich getrennt und ein jeder ist seines Weges gegangen? Nach allem, was vorgefallen war? Das ganze Essen auf dem Boden. Überall Scherben. Knöcheltief Wein. Der Wirt hat die Polizei gerufen. Wir haben alle versucht, uns aus dem Staub zu machen, waren aber zu betrunken. Jeder hat dem anderen die Schuld gegeben. Die Berichte widersprechen sich. Wir wurden auf freiem Fuß angezeigt. Und er, der Hauptverantwortliche, nicht mehr auffindbar. Was für ein Abend.
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