Das kommt davon

Ein Mann schleift eine aus dem Kopf blutende Frau über eine Kellerstiege.

Hilf mir doch, sagt der Mann. Siehst du nicht, dass sie mir zu schwer wird? Er sieht aus wie mein Bruder, hat aber einen Bart. So einer, auf dem der Bierschaum kleben bleibt. Aber mein Bruder hat weder einen Bart, noch trinkt er Bier. Schon das allein hätte mich eigentlich stutzig machen sollen. Tat es aber nicht. Warum auch sollte es das. Ist ja ein Traum, dachte ich im Traum. Ja, sogar im Traum ist ein Denken möglich, selbst wenn du die Kontrolle über dein eigentliches Ich verloren hast. Wer aber weiß schon, wer sein eigentliches Ich ist? Vielleicht wollte ich mich einfach nur vergewissern, dass ich hier keine Beihilfe zu einem Mord leiste, deretwegen ich vor Gericht gestellt werden könnte. Es ist so ein Traum, aus dem das Erwachen nur in Etappen erfolgen kann, wenn ein Erwachen tatsächlich stattgefunden hat. Was ich mittlerweile bezweifle.

Der Anruf meines Bruders war nämlich mehr als irritierend. Wie geht’s dir? hat er gefragt. Eigentlich eine ganz banale und alltägliche Frage. Sollte man meinen. Hätte er nur gefragt: Wie geht’s dir? hätte ich die Frage ja schnell beantworten können. Beschissen nämlich. Vor allem, wenn man mit dem Gefühl aufwacht, ein Mörder oder zumindest sein Komplize gewesen zu sein. Schuldgefühle beeinträchtigen das Wohlbefinden nämlich ganz erheblich, selbst wenn sie nur eingebildet sind. Das kannst du mir glauben. Er hat aber nicht nur gefragt: Wie geht’s dir heute? Sondern hat noch die Frage dazugehängt: Wie war die Nacht? So als wüsste er von meinem Traum und das mit der am Kopf blutenden Frau, die er mich zu tragen gebeten hatte, weil sie ihm zu schwer war. Damit nicht genug, hat er so nebenbei erwähnt, dass er sich einen Bart habe wachsen lassen. Da war jetzt guter Rat teuer. Sollte ich so tun, als wüsste ich, dass auch er um alles weiß, oder frage ich ihn rundheraus, was er denn heute Nacht in meinem Traum verloren hatte?
Auch wenn es der eigene Bruder ist: Ich will nicht für einen Spinner gehalten werden.
In deinem Traum? Was ich in deinem Traum verloren hatte, fragst du mich? Ich kann doch nichts für deine Träume, könnte er nämlich dagegenhalten, während ich – das Handy zwischen Schulter und rechtem Ohr eingeklemmt -, noch immer dabei bin, das verkrustete Blut von meinen Händen zu waschen. Eigentlich wollte ich von ihm hören, dass ich nicht geträumt hatte, aber diesen Gefallen wollte er mir einfach nicht machen. Denn wenn ich das alles nicht geträumt habe, oder wenigstens so geträumt, dass wir die Frau nicht die Kellertreppe hinunter, sondern hinaufgetragen haben, weil mein Bruder sie dort bewusstlos vorgefunden hat, wäre mir jetzt wesentlich wohler. Die Treppe nämlich war so  eine, wie man sie auf Vexierbildern findet, die optische Täuschungen zulässt.
Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Selbst den Handlauf erkenne ich wieder. Es ist dieselbe Treppe, die wir schon als Kinder gruselig fanden, weil uns ein Geruch von Moder entgegenschlug, wenn wir, um Marmelade oder Eingemachtes oder Holz und Kohle zu holen, in den Keller mussten. Das Licht war eine Funzel. Es stammte von einer Glühbirne, die mit einem Drahtgeflecht geschützt war. Eine Gruben- oder Sturmlampe war es, die unser Großvater mit einem Haken an die Decke gehängt hatte. Das fahle Licht flackerte und schrieb kohlschwarze Schatten auf die gekalkten Wände, auf denen der abgefallene Verputz selbst bei Tageslicht mir Angst einjagte, weil ich in den so entstandenen Umrissen nichts anderes mehr als Spukgestalten sehen konnte.

Noch immer weiß ich nicht, ob ich schon wach bin oder mein Traum anhält und mir das Wachsein vortäuschen will. Vielleicht habe ich gar keinen Bruder. Vielleicht ist auch der Anruf nur erfunden. Meine Gewissheiten werden täglich weniger, wobei täglich in der Traumzeit ein ganzes Leben bedeutet oder zumindest so lange wie auf dem Uranus ein Tag dauert; und das sind immerhin 42 Jahre.

Du bist nur groß geworden, aber ein Kind geblieben, hat die Frau gesagt. Die aus dem Kopf blutende Frau im Traum nämlich. Entfernt erinnert sie mich an meine Mutter, weil sie mir jetzt im Traum noch, und obwohl ich dafür viel zu alt bin, den obersten Hemdknopf schließen will. Ich hasse dieses Herumnesteln an mir. Der Kragen muss offenbleiben. Ich will nicht ersticken!, protestiere ich.
Wie du nur wieder ausschaust! Die Frau hat zwar eine Wunde am Kopf, aber sie kann sprechen. Das beruhigt mich. Von Mord- oder Mordabsichten also keine Spur. Oder doch?

Herr Richter, nein, das stimmt nicht. Ich habe sie nicht gehasst. Manchmal hatte ich eine Mordswut auf sie, aber das sagt man nur so. Mordswut. So groß war die Wut auch wieder nicht, und zu den Geschworenen gewandt: Stimmt’s? Da werden Sie mir doch Recht geben, oder?

Ich war gerade dabei, mich um Kopf und Kragen zu reden, als der Traum glücklicherweise eine überraschende Wendung nahm, die mir die Illusion rauben wollte, noch immer zu träumen. Noch vor dem Erwachen nämlich suchte ich einen Therapeuten auf, der auf Traumdeutung spezialisiert war. Ich habe es nicht bereut. Er deutete die Frau, mit der wir, mein Bruder und ich, uns abschleppten als etwas, das wir tragen, aber gleichzeitig auch entsorgen wollen. Einer allein würde unter der Last zusammenbrechen. Es wäre an der Zeit, die Rolle des Leid-tragenden aufzugeben und Verantwortung zu übernehmen, hat er gemeint. Es war eine vorsichtige Deutung, aber ich war gleich mit ihr einverstanden.
Aber das Blut? Woher das Blut?
Das kommt davon.
Wovon? habe ich gefragt.
Vom Aufschneiden! hat er gesagt, und ich will, ich muss es ihm glauben.
Hast dich geschnitten, wenn du glaubst, dass ich jetzt Mitleid mit dir habe, rief er mir nach. Ja, das hatte ich nun davon; ja, ich hatte mich geschnitten. Jetzt konnte ich mich brausen oder baden gehen, um es abzuwaschen. Das Blut nämlich war zu dick aufgetragen.

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