Zeichen-Schwarm-Zeichen

Schau. Unter dem Bild ist noch eines. Und ganz tief unter der ersten Schicht, die etwas zeigt, was man nicht sehen durfte und übermalt wurde, unter dieser Legierung liegt sie, die Wahrheit, nichts als Leinwand. Weiß. So weiß wie der Schnee auf dem Fujiyama, wenn er geschmolzen ist, weil die Lampe zu stark gebrannt hat. Ja, so weiß, wie das Betttuch mit den eingebildeten Rosen, die eine unsichtbare Hand gestickt hat, mit der Nadel ausrutschend immer wieder, der Finger, aus dem das Blut rinnt, und die Zähne, die den Faden abbeißen, der schon gerissen ist, bevor sie die Arbeit aufnahm. Ein Traum alles, nichts als ein Traum. Pfade ins Nirgendwo. Gesäumt von Wiesen mit Löwenzahn, denen du in die Schirme pustest, die sich ins Blau hineinschrauben, ins Blaue geschrieben von einem alphabetischen Katalog regionaler Winde mit Namen wie Dramundama oder vent du col des Encombres, Himmelbesen, der vor der Tür kehrt und winselt, ein Kind ohne Schlüssel, ausgesperrt; Himmel-Schlüssel-Blumen-Kind. Trink! Trink schnell und viel, dass dein Kopf an die Decke stößt. Trink, damit du dich klein machen kannst, um in die Kaninchenlöcher zu schlüpfen auf der Suche nach verheißenem Lebensgrund, dem goldenen Ball auf dem Boden des Brunnens. Am Steinrand dort du. Königin: die Lippen aufgemalt mit Saft aus schwarzer Johannisbeere. Traubenschwer dein Kuss. Und deine  Augen, die grinsen aus zwei schwarzen Löchern, und ich schaue vom Rand aus tief hinein in die Hirnschale, dem Firmament mit den Sternen, deinen Gedanken: mein Nadelkissen.

Schau! Dieser Schwarm da aus schwarzem Gefieder und weißem Hals, der sich zu immer neuen Mustern ordnet und tanzt in algorithmischer Komplexität und vollendeter Choreografie: Derwische des Himmels, Spiegel der Barben und Schmerlen und Heringszüge: kaum gesehen, wisch und weg. Pinselstriche: weiß auf weiß. Ein Jetzt aus einer Zeit ohne Uhren. Rauch und dann Kippe im Rinnsal zwischen den Fugen von Pflastersteinen einer von Römern gebauten Straße tief unter dem Schutt eines Hochhauses, auf dessen Trümmern aus vergessenen Kriegen heute gleichmütig ein mutiger Architekt ein Hotel plant. Mein Blick aus einem seiner Fenster in dieser herunter-gekommenen Absteige heute wünscht sich Wald und die Rufe des Kuckucks oder wenigstens das Trommeln eines Spechtes auf borkige Buchenrinde. Buchstaben aus weißen und schwarzen Tasten. Musik aus Zeichen und Silben. Was für ein Morgen!, möchte ich rufen. Was für ein Tag! Aber ich schlaf ja, und schaue nur Bilder.

Eine Frau nippt an einer Tasse Kaffee und lächelt und redet und sucht mit ihren Blicken ein drittes Ich, denn sie redet mit sich selbst, als gäbe es sie, während ich Briefe lese, auf einem Flohmarkt verhökerte Briefe aus dem Nachlass einer Mutter, die ihren Sohn daran erinnert, dass er einmal ein Kind war und geschrieben hatte mit Bleistift, der Buchstaben noch nicht ganz sicher und auch der Wörter nicht, wie man sie schreibt und in welche Reihenfolge zu bringen, …aber schau, so die ungeschriebene Botschaft der Mutter: das habe ich für dich aufgehoben, damit du, jetzt, wo du groß bist, weißt, wie mühsam es war, das zu lernen, dich groß zu ziehen. Allein.

Lieber Vati! Wie geht es Dier? Bist du noch in Wien? Ich habe meinen Ball verschmissen, auf das Dach hienter den Rauchfang.  Heut krieg ich Pflaumenknödel.
Viele bussi dein Bub.

Wie klein du doch einmal warst, als du noch nichts als den Augenblick kanntest: Wovon sprichst du, wenn du jetzt sagst? So alt hast du werden müssen, um deine Briefe wieder zu bekommen. Bote bin ich und Botschafter vermittelnd zwischen deinem Traum und meinem: Ich stehe unten an der Tür und läute. Ich sehe dich vor mir. Ich höre die Klingel. Jetzt! Das ist Traumzeit.

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