Das Haus

Das Haus ist in meinem Kopf. In ihm gehe ich auf Reisen. Zuerst höre ich ein leises, rhythmisches Klopfen. Es kommt aus den Lamellen der Zentralheizung und verbreitet seine Signale über Metallrohre, die sich über die Stockwerke verzweigen. Der Rhythmus folgt dem Morsealphabet einer fremden Sprache. Das Haus hat ein Gedächtnis. Es schlägt seine Zähne hinein in seine Wände mit den auf Zeitungen von Vorvorgestern überklebten Tapeten und die mit Sand aufgefüllten Zwischenböden; es nagt das Mitleid aus seinen Fugen. Die Risse sind Runen. Ritzungen, die gedeutet sein wollen. Es kennt die modrige Feuchte der aufgeschütteten Erde über dem Felsen, in dem es wurzelt, und die aufgestaute Hitze unter den Ziegeln des Daches, wo Hornissen nisten und Spinnen klebrige Netze spannen über Truhen mit schweren Vorhängeschlössern und Überseekoffer, die von vergessenen Reisen erzählen.

Das Haus schwitzt und es friert. Hinunter führt eine Stiege aus Stein, hinauf Treppen aus Holz. Eine jede hat 16 Stufen. Hinauf ist es mühsam, hinunter gefährlich; oben ist nicht der Himmel und unten nicht die Hölle. Es ist weder Herberge noch Hotel. Es will kein Schloss sein und auch keine Villa. Es ist ein Haus. In ihm wird gelogen, dass sich die Balken biegen; der Teufel wird an seine Wände gemalt; das Geld aus den Fenstern geworfen, Menschen vor die Tür oder in die Welt gesetzt. Angst belegt alle Zimmer. Manchmal Freude. Ja, aber selten. Ein Haus wie jedes andere ist es. Belastet mit Erinnerungen und einem Vermächtnis: Wir alle sind Erben.

Dann höre ich Stimmen. Männer, Frauen, Kinder. Sie reden gleichzeitig auf mich ein. Es sind keine Geschichten; es sind keine Erzählungen mit einem Anfang und einem Ende. „Essen kommen!”, ruft es aus einem Fenster im ersten Stock. „Runter vom Baum!”, brüllt eine andere von fast ganz oben aus dem Zimmer unter dem First. In jedem Zimmer sind Stimmen und auch im Stiegenhaus manchmal Geflüstertes, dann wieder Gebrülltes. Da ein ersticktes Weinen, dort ein seltenes Lachen. Und immer wieder die Stimme meiner Mutter:
Wie ich jung war, und wie dann der Krieg ang’fangen hat, hab ich Krankenschwester g’lernt in Zams in Tirol. Eigentlich wollt‘ ich ja Säuglingsschwester werden, aber daraus ist nichts ‚worden. Jeden Tag haben’s die Verwundeten eing’flogen von überall her, auch aus Aufrika. Da sind sie dann g’legen, blutjunge Burschen mit einem Gips bis zum Hals manche und unter’m Gips die offenen Wunden, die Flöh‘, alles brandig, und der Gestank und g’schrieen hab’n‘s vor Schmerzen, das hör‘ ich heut‘ noch, und wir haben kein Morphium g’habt, und dann sind’s amputiert worden oder sind g’storben wie die Fliegen über Nacht, und ich ganz allein in einem Saal mit über hundert Betten und die Barmherzige Schwester und auch der Oberarzt schlafen. Im Krieg hat man da nicht zimperlich sein dürfen. Jeden Tag hab ich die Toten ganz schnell aus dem Zimmer schaffen müssen, dass es die andern nicht sehen. Mit dem Toten im Lift hinunter in die Prosektur. 18 war ich. 18 Jahr alt. Und die Toten nicht älter. War kein’ schöne Zeit nicht.

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1 Comment
  • Erny+Menez
    Posted at 14:18h, 15 April Antworten

    Das hab ich vergessen, dass deine Mutter Krankenschwester gelernt hat …. in diesen schrecklichen Zeiten.
    Auch meine Mutter war Krankenschwester in Eggenburg, aber das war viel später und nicht so hart. Obwohl sie viel Trauriges zu erzählen hatte, z.B. die armen Jungen der Erziehungsanstalt, wenn sie krank wurden und niemand sich um sie kümmerte !
    Erny

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