Zwischen zwei Zügen

Ganz im Jetzt inhaliere ich die Schadstoffe einer vorletzten Zigarette.
Die Zigarettenschachtel zeigt den nackten Rücken eines Mannes mit einem blutroten Schnitt, der wie ein Hieb mit dem Säbel – von den Lymphknoten die Rippen hinauf bis an den Rand des Schulterblattes führt.
Ein Wind jagt durch die Allee und rüttelt die Äste der noch blattlosen Kastanien, die im Sommer ein Dach bilden werden. Der Himmel ist grau und wird von einem ausgefransten Kondensstreifen in zwei Hälften geteilt. Ich bleibe in meiner. Zeitversetzt kommt der Schall. Jeder hat sein Jetzt. Die Gedanken können nur mithalten, wenn sie in Bilder übersetzt werden. Jeder Gedanke ein Bild.
Ich sollte zu rauchen aufhören.
Zwischen zwei Zügen hat eine russische Saatkrähe auf einer janusköpfigen Statue Platz genommen. Als ich klein war, hab ich gedacht, ein Bildhauer müsse einer sein, der Leute prügelt, wenn sie sich beim Malen keine Mühe geben. Die russische Saatkrähe dreht ihren Kopf zur Seite, lenkt den Blick nach oben und erleichtert sich, indem sie einem der beiden, die eins sind, auf den Kopf scheißt. Sie tut, als wäre nichts geschehen, plustert ihr Gefieder und fliegt davon. Sie kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen, da sie ein Tier ist, aber sie kann eine Nuss im Schnabel führen und sie aus großer Höhe auf den Beton der Straße fallen lassen, um die Schale aufzubrechen.
Willst du einen guten Satz hören?, hat mich ein Freund heute am Telefon gefragt. Sätze, die mich zum Nachdenken anregen, höre ich immer gern, habe ich ihm geantwortet. Dann pass auf!, hat er gesagt: “Die Dummheit hat aufgehört sich zu schämen.” Das ist ein Satz von einer gewissen Frau Kastner. Die ist Psychologin und hat ein Buch über Dummheit geschrieben. Nach dem Gespräch hab’ ich über den Satz nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass der Satz nur stimmen kann, wenn vorausgesetzt wird, dass Dummheit Scham kennt. Wer sich seiner Dummheit schämt, kann nicht dumm sein. Dummheit und Scham wachsen nicht auf dem gleichen Gelände.
Gestern habe ich einen denkwürdigen Satz gelesen: “Eine Frau muss ihr Leben leben, oder leben, um zu bereuen, dass sie es nicht gelebt hat.” Und an Lady Chatterley gerichtet: “Du lässt deine Jugend vorüberziehen und wirst dein Alter und deine mittleren Jahre dransetzen, das zu bereuen.” Auch ein Mann muss sein Leben leben, oder leben, um zu bereuen, dass er es nicht gelebt hat. Was aber heißt das, das Leben zu leben? Können wir denn anders, als unser Leben zu leben? Meint D.H. Lawrence vielleicht, jedem Impuls nachzugeben? Entscheidungen aus dem Bauch zu treffen, ohne dass sie “von des Gedankens Blässe angekränkelt” werden? Selbst nach reiflichen Überlegungen können bei so vielen Wahlmöglichkeiten falsche Entscheidungen getroffen werden. Oder etwa nicht?
Die Rosen im Park sind gewidmet: “Ich blühe für Sayako!” steht auf einem Schild. Ob Sayako das weiß?
Auf dem Heimweg lese ich auf einer gelben Hauswand:”In der Gegenwart ist man present. Das stimmt!” Dem kann jeder nur beipflichten. Eigentlich ein dummer Spruch. Aber gerade durch die Tautologie und das affirmative “Das stimmt!” gar nicht so dumm, weil wir uns gerade dieses Präsentsein im Augenblick selbst vorenthalten. Wer ist sich denn jedes Augenblickes, von der die Summe das Leben ausmacht, so richtig bewusst?
Auf dem Gehsteig ein Mund-Nasen-Schutz mit Fußabdruck. Auch so ein Zeichen für Vergänglichkeit. Hoffentlich und endlich endemisch geworden die Pandemie.
Über dem Eingang einer Trafik: “Rauchen tötet, ist aber geil.”
Eine Schlagzeile fragt: “Ist die Impfpflicht obsolet?”
Eine andere stellt fest: “Dialog mit Zuckerbrot und Peitsche!”
Noch immer muss ich an Sayako denken und an die Rose, die bald für sie blühen wird – und das, obwohl sie nicht darum weiß, wie ich befürchte. Sie soll den Titel Queen tragen, ließ der Palast wissen. Gegner und Befürworter bringen sich in Stellung. Maiglöckchen schießen aus dem Boden. Noch ist der Krieg nicht ausgebrochen.
Ich habe zu rauchen aufgehört. Ich habe zu rauchen aufgehört. Ich habe zu rauchen aufgehört. Jetzt glaub’ ich es. Ein Laster aufgeben. Ein Nichtraucher sein. Sich von Last befreien. Last but not least. Sein.

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