Leave or Remain or Brexregret

Prudence Lambert im Gespräch mit Helmut Hostnig in London

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Eine Woche London. In Gesprächen mit Menschen von der Straße, aber auch in den Headlines der Zeitungen ist Brexit allgegenwärtig. Mit den zweistöckigen Bussen und der Underground kreuz und quer durch London unterwegs, fand ich ein London vor, das oberflächlich betrachtet, boomt. In den Hotspots tausende Touristen, die mit dem billiger gewordenen Pfund die Shoppingmalls durchpflügen, sich mit dem Selfiestick vor den touristischen Highlights ablichten und am Abend vor den Lokalen und Pubs lange Schlangen bilden, um einen Tisch zu reservieren.

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Überall werden in einem unvorstellbaren Tempo und ohne Rücksicht auf die Umgebung Wolkenkratzer hochgezogen, welche – wie die Glastürme von Gherkin und Shard – die vertrauten Wahrzeichen ablösen und – sich fernöstlichen Metropolen annähernd – die Skyline von London zu prägen beginnen. Der Höhenwahn – warnten Architekten schon 2014, als ich die Hauptstadt der UK das letzte Mal aufgesucht habe -, droht, das Stadtbild für immer zu zerstören. Zum Charakter der Stadt gehörten von jeher, die nach den royalen Epochen benannten fast ausschließlich zweistöckigen Häuser, von denen die mit rotbraunem Backstein im gregorianischen oder victorianischen Stil erbauten Häuser ganzen Stadtvierteln ihre unverkennbare Prägung geben.   london2016 (45).jpg

Die Immobilienmakler bauen möglichst weit nach oben, um die teuren Grundstückspreise zu amortisieren. Im Gegenzug müssen Sozialwohnungen als Preis für die Bauerlaubnis an anderer Stelle errichtet werden. Viel zu wenige, meint Prudence Lambert, die ich interviewt habe: Viele ausländische Investoren – vornehmlich Russen und Chinesen – sehen eine Immobilie in London als sichere Anlage. Der Markt ist so überhitzt, dass Wohnungen inzwischen kaum mehr erschwinglich sind.

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Um den hohen Mietpreisen zu entkommen, mieten sich einige ein Hausboot. Von Camden aus kann man entlang eines Kanals bis zu little Venice spazieren. Ein lohnender Spaziergang, da man der Hektik, dem ohrenbetäubenden Lärm des Verkehrs wenigstens für diese Zeit entrinnt und ein anderes London kennen lernt: Eines, das sich Zeit lässt und die charmanten Schrulligkeiten seiner Bewohnerinnen sichtbar macht.

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Vom Oberdeck eines Busses, der mich ins Zentrum bringen soll, schaue ich hinunter auf die vom Verkehr völlig überlasteten Straßen. Auf einer sehe ich auf dem Bürgersteig eine nicht enden wollende Schlange von Menschen. Ich frage einen Sitznachbarn scherzhaft, was es hier zu gewinnen gibt. Er antwortet sehr ernst, dass sich diese Menschen um Essen anstellen: It’s a foodbank. Thirteen million people live below the poverty line in the UK, with individuals going hungry every day for a range of reasons. Leider muss er aussteigen. Hätte ihn gerne mehr gefragt. Daten über die Armut in UK findet man aber auch im Netz. Wie überall sind es vor allem Single-Haushalte, Frauen und Pensionistinnen und nicht qualifizierte Schulabgängerinnen, welche die Armutsstatistik anführen. Noch aber liegt die Armut in der EU-Statistik knapp unterhalb des europäischen Niveaus.

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In einem Cafe spricht mich ein junger Mann an und fragt, woher ich komme. Dann sind wir ja Nachbarn, sagt er, sichtlich erfreut. Ich komme aus der Tschechai. Da drüben ist die Botschaft. Muss meine Aufenthaltserlaubnis verlängern. Arbeite im Baugewerbe. Am Anfang habe ich 20 Pfund verdient am Tag. Jetzt sind es 50. Meine Wohnung in Leeds kostet 1300 Pfund. Das ist ein Zimmer mit einer kleinen Küche. Jetzt plant die Regierung, dass alle, die weniger als 30 000 Pfund im Jahr verdienen, die UK verlassen müssen. Das werden sie aber nicht tun können. Wer soll denn die Arbeit machen, die wir machen?, fragt er und es ist eine rhetorische Frage.

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Die Regierung hat keinen Plan für den Brexit, meint Prudence Lambert, die ich auf einer Reise nach Südamerika kennen gelernt habe und seit drei Jahren in Pension ist, nachdem sie Jahrzehnte beim Roten Kreuz und bei Amnesty International für die frankophonen Länder in Afrika gearbeitet hat: Sie hatte ihn weder vor dem Referendum, denn niemand hat damit gerechnet, dass die mit falschen Informationen angefütterte Leave Kampagne Erfolg haben würde, noch hat sie ihn jetzt. Jeden Tag überschlagen sich die Nachrichten. Die Folgen waren absehbar. Es wurde gewarnt, aber nur halbherzig. Nicht nur, dass der Banksektor nach Frankfurt abzuwandern droht, es sind – da wir kaum noch heimische Industrie haben – vor allem die großen – Arbeit gebenden, internationalen Konzerne -, wie zB. gerade eben Nissan, die ihre Standorte in der UK aufgeben wollen. Dazu kommt die Unsicherheit vor allem für die Arbeitsimmigranten aus der EU – vornehmlich Polen (über 700.000) -, die erst kürzlich gestreikt haben, um aufzuzeigen, welche Bedeutung sie mittlerweile nicht nur im Dienstleistungssektor haben.

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I don’t want to be a tiny little Britain, who has to apply for visa if I want to travel in Europe. I want to have the stamp of the EU in my Passport. I am a European citizen, sagt sie mit Nachdruck.

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Ja, das Land ist gespalten. Es gibt sie nach wie vor, die Brexitiers, aber die Front derer, die für Leave gestimmt haben, bröckelt. Heute hat Tony Blair, der sich als Kriegstreiber an der Seite Bush’s verdient gemacht hat, für eine Wiederholung des Referendums plädiert. Er ist – wie viele der ehemaligen Befürworter ins Lager der Brexregretiers übergelaufen. Die Members of Parliament wollen, dass auch ihre Stimme gehört wird. Sie gehen davon aus, dass das Referendum nicht bindend sein muss. Die Remainers hoffen auf Irland, das zur Außengrenze der EU wird, aber auch auf Schottland’s Versuch, von Downing Street nicht in Geiselhaft genommen zu werden. I will be advocating Vote Leave, hat Boris Johnson, der ehemalige Bürgermeister Londons im Februart 2016 erklärt und durch seine Kehrtwende nicht unerheblich zum fatalen Ausgang des Referendums beigetragen. Jetzt wurde ein der Presse zugespieltes Papier bekannt, in welchem er sich kurz davor für den Verbleib ausgesprochen hat.

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Die UKIP-Partei, deren Erfolge David Cameron, vormals Premierminister, dazu bewegt haben, ein Referendum in Aussicht zu stellen, ist eben dabei, sich selbst zu zerlegen. Manche gehen davon aus, dass der Brexit gar nicht stattfinden wird, da es in zwei Jahren unmöglich ist, alle Verträge des Artikels 50 neu zu verhandeln. In 30 Jahren sind wir wieder dabei Don’t worry Remainers, Britain will rejoin the European Union within 30 years, titelt der Guardian.

 

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3 Comments
  • San-Day
    Posted at 18:27h, 30 Oktober Antworten

    Danke Dir für das mitgebrachte Bild und Deine gesammelten Eindrücke.
    Liebe Grüße
    San

    • Helmut Hostnig
      Posted at 18:46h, 30 Oktober Antworten

      Liebe Sunday
      Danke fürs Folgen. Eines schönes Wochenende dir wünschend

  • wol
    Posted at 15:48h, 29 Oktober Antworten

    Interessante Hintergründe. Mitten aus der Gesellschaft.

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