Chile: Experimentierfeld der Chikago Boys

 
Am Dienstag der Osterwoche gingen weit über hunderttausend Studenten in Santiago und Valparaiso auf die Straße, um wieder und wieder die von Bachelet vor den Wahlen seit 2011 versprochenen Reformen einzufordern. Eduardo zB. gehört noch einer Generation an, die freien Zutritt zu den Studiengängen in den Universitäten hatte. Die Schulen waren gratis und garantierten eine qualifizierte Ausbildung, obwohl Chile damals wesentlich ärmer war. Mit Pinochet und den Chikagoboys wurde Chile zum Laboratorium des Neoliberalismus und es gibt kaum mehr einen Bereich, der nicht privatisiert ist. Heute zahlt Eduardo für seine zwei Kinder monatlich je 800 Dollar für ihre schulische Ausbildung. Die Superreichen Chiles sind auf wenige Familien konzentriert, die als entscheidungstragende Eliten neben den internationalen Konzernen im Besitz der Banken, Straßen, des Transportwesens, der Pensionskassen, der Universitäten, Spitäler und der Kupferminen sind. Vom Abbau in den Kupferminen erhalten die Militärs seit der Junta bis heute einen Prozentsatz, der allein genügen würde, eine kostenlose Gesundheitsversorgung und Ausbildung für alle zu garantieren Zu ihnen gehören zB. Luksic, Fallabella oder Guzman, die wie Paulmann mit Baumärkten und Ketten von Supermärkten reich geworden sind. Paulman hat sich als Zeichen seiner Macht einen weithin sichtbaren phallischen Wohnturm errichten lassen, der die Skyline von San(tiago)hattan prägt. Wie in Europa haben auch hier die Menschen ihre Hoffnung auf einen Wandel durch die etablierten Parteien von links, Mitte und rechts aufgegeben. Selbst die Kommunisten schneiden am Kuchen mit.
Ich hoffe, dass es mir mit den vielen Interviews gelingen wird, die derzeitige Situation besser abzubilden, als es mir über meine verschrifteten Eindrücke gelingt.
Eindrücke vom Flohmarkt in Santiago
Am Wochenende war ich mit Maria auf der Persa Biobio, einem der größten Flohmärkte Chiles. Er entstand in jenem Stadtteil Santiagos, wo sich früher die Bauern nach ihrer Landflucht angesiedelt hatten. Der Stadtteil hatte zu Beginn des 19. Jhdts. wegen der hohen Kriminalität, den schlechten und unhygienischen Wohnbedingungen, die oftmals zur Ausbreitung von Epidemien führten, einen miesen Ruf. Nach und nach verbesserten sich die Lebens- und Wohnverhältnisse durch staatliche Initiativen, die damals beispielgebend für ganz Südamerika waren. Es entstanden Gerbereien, Schuh-, Möbelfabriken und eine Glasmanufaktur. Schulen für die Arbeiterkinder wurden errichtet, eine Bibliothek und ein Theater machten das Barrio Matadero zusehends attraktiver auch für andere Stadtbewohnerinnen.


Als nach der ersten großen Weltwirtschaftskrise 1929 das Schlachthaus und die Glasfabrik zusperrten, begannen die Arbeitslosen in den heruntergekommenen  und vom Abriss bedrohten Gebäude kleine Geschäfte zu errichten und ihre Habseligkeiten auszubreiten, um sie zum Verkauf anzubieten. So entstand der bis heute größte Flohmarkt Santiagos, der vor allem an den Wochenenden neben Bellavista zu einem beliebten Ausflugsziel der Stadtbewohnerinnen wurde. Auf den Flaniermeilen zwischen den Lagerhäusern unterhalten Tanzdarbietungen, Zauberer, und Karaoke singende Frauen und Männer die Besucher: Wer hier nicht fündig wird, hat nicht gesucht oder belohnt sich nach preiswertem Einkauf, aber gewöhnungsbedürftigem Lärm inmitten der Antiquitäten, Bücher, Kleider, Werkzeuge, Elektronik und Möbel mit einem Essen chilenischer, peruanischer oder argentinischer Küche. Ich gönne mir eine Huatita, eine für Maria ekelerregende Speise, die ich mit Kutteln übersetzen würde.

Viele Ziele locken in Santiago. Vor allem das farbenfrohe und überaus lebendige Viertel Bellavista, in welchem Neruda sein Haus hatte. Dort wohnt Mario, ein Freund Eduardo´s; ein über Santiago hinaus bekannter Maler, der noch mit 73 auf einer der Universitäten Studentinnen in Ästhetik unterrichtet. Er hat ein kleines Atelier und ebenerdig wohnend einen kleinen Patio am Fuß des San Christobal, den er mit seinen Objekten und Wandmalereien ausgeschmückt hat. Ein überaus lustiger und lebensfroher Mann, den alle zu kennen scheinen und noch heute so lebt, als wären die 68iger nicht schon längst Geschichte.

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1 Comment
  • Manfred Voita
    Posted at 23:11h, 14 April Antworten

    Bei aller Exotik, bei der Fremdheit dessen, was du uns zeigst, sind es dann eben doch auch wieder die gleichen Sorgen, die gleichen Entwicklungen, mit denen wir uns in Europa herumschlagen, vielleicht weniger im reichen Österreich oder Deutschland, aber unser Süden erzählt wohl ähnliche Geschichten. Deine Nähe zu den Menschen macht deine Reportagen so lesenwert.

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