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Ich könnte auf kein Gebetsbuch schwören, dass es sich wirklich so zugetragen hat; auch heilige Eide können gebrochen werden. Sie müssen sich also auf nichts anderes verlassen als auf mein Wort; das gebe ich Ihnen gern. Ich gebe Ihnen mein Wort, und das muss genügen. ehen (1080 x 1920)Bevor ich beginne, will ich mich bei allen jenen bedanken, ohne deren Anteilnahme und Mitwirken das Tagebuch nie aufgefunden worden und damals vergangener wie heute zukünftiger Nachwelt vorenthalten geblieben wäre. Ihre Namen aber öffentlich zu machen, verbat sich, weil niemand von ihnen es wünschte. Außerdem haben alle schon lange vor dem Zeitpunkt der Eintragungen, in welchen einige von ihnen eine nicht unerhebliche Rolle spielen, ihr Grab und somit die Ruhe gefunden, die manche während ihres Lebens vergeblich gesucht hatten. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch werde ich also weder ihren richtigen Namen verraten, noch sie für Hinterbliebene und Nachfahren erkennbar machen, selbst wenn sie es verdient hätten; auch auf die Gefahr, dass es mir diejenigen unter ihnen übel nehmen werden, die heute und in einer fernen Zukunft auf ihre Entbindung warten. Auch will ich am Rande anführen, dass es sich als Textsorte nicht eigentlich um ein Tagebuch handelt, da es auf die Ich-Form verzichtet und zwei Figuren, ja Figuren, die wie Menschen agieren, aber keine zu sein scheinen, einführt, die als Mann und Frau vorgestellt werden.

katzeDas mit der neuen Einstufung für den Pflegebedarf vergiss, Bub, sagt sie, seine Mutter. Da muss man schon auf dem Weg in die Grube sein; nicht einmal, wenn ich im Rollstuhl sitzen tät oder nicht mehr wissen, wie ich heiß, krieg ich das. Weißt, die von der Gebietskrankenkasse brauchen das Geld für was anderes. Die sparen, wo’s geht. Musst dir nur einmal anschauen, was die sich für Paläste bauen. Aber versuchen können wir’s doch. Dann hättest auch Geld für mehr Betreuung. Das ist zu wenig, dass nur einmal am Tag wer kommt und nach dir schaut. Wenn du meinst?, sagt sie, und es wundert den Bub, dass sie so schnell nachgibt, da sie nach dem letzten Mal beschlossen hat, sich nicht noch einmal verhören zu lassen. Aber diesmal darfst dem Arzt von der Versicherung nicht wieder sagen, dass er sich keine Sorgen machen soll, weil du noch sehr gut für dich selbst sorgen kannst, und du schon zurechtkommst. Das kannst du nämlich nicht mehr, für dich sorgen. Ja, das weiß ich selber, Bub, dass ich das nicht mehr kann. Aber was soll ich denn antworten, wenn er mich wieder fragt, wann ich geboren bin? Ein bisschen müsst‘ ich den Dement schon haben, aber noch nicht ganz blöd im Kopf sein, oder? Mama, sagt der Bub, das heißt „Demenz“. „Die Demenz“.  Sie ist weiblich, nicht männlich. Den Dement gibt’s nicht. Ich kenn ihn nur männlich, sagt sie, keine Widerrede duldend. Gut, sagt er, von mir aus. Du könntest sagen, dass es vor dem Krieg war, dem letzten, wie du auf die Welt gekommen bist, wenn er dich wieder nach dem  Geburtsdatum fragen sollte, schlägt ihr Bub jetzt vor. Das ist nicht falsch und auch kein Beweis für deinen Dement. Die meisten Krankheiten sind männlich, sagt sie nach einer kurzen Pause des Nachdenkens, und zählt auf: der Krebs, der Blinddarm, der Star… Und warum sind dann Prostata und Impotenz und Inkontinenz weiblich?, fragt sie der Bub, obwohl er weiß, dass sie jetzt immer weiter vom eigentlichen Thema wegkommen.