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Und?, fragen meine Augen. Was soll das? Warum gehst du auf Stopp, wo's doch gerade erst spannend wird. Aber ich sage gar nichts. Warte, Nach längerem Schweigen, - vielleicht sollte ich das erst verdauen -, sage ich: Das bist nicht du, der da spricht, oder? Kurz vor dem Abkratzen und so gewählt, wie der sich ausdrückt. Interessant. Wie bist du an das Ding gekommen?

Interessant also findest du das. Interessant. Ja, so kann man das auch sehen. Interessant, echot er jetzt schon zum dritten Mal. Dabei lacht er, wie ein Hund bellt: Interessant. Zu viele Zigaretten. Zu viel Alkohol, zu viel von allem. Dann verstummt er wieder. Er starrt auf die Weinflasche und auf das leere Glas. Er starrt mich an. Er starrt, wohin er auch schaut. Sein Blick hat etwas so Starres, als wären auch seine Augen aus Glas. Auch seine Stimme ist seltsam verkrampft, wenn er überhaupt spricht. Vorläufig aber bleibt er stumm und gibt mir Gelegenheit ihn zu mustern, was ich auch tue. Jetzt selbst in der Erinnerung noch: 

Das allerdings war nicht mehr der Mensch, den ich kannte. Er war mir fremd, wie man nur sein kann, und er tat nichts, gar nichts, mir dabei zu helfen, den in ihm wieder zu erkennen, mit dem ich immerhin 3 Jahre verbracht hatte. Damals hatten wir uns eine kleine Bude geteilt, eine Basenawohnung im dritten Bezirk mit Klo am Gang, eine Subsubstandard, wenn es diese Kategorie überhaupt gibt. Da wir sie nur zum Schlafen nutzten, hat es uns nichts ausgemacht. Benaro war sein Name. Peter Benaro, aber so heißt er ja noch immer. Jetzt spreche ich ja über ihn, als wäre er schon tot. Naja, in gewisser Weise ist er das auch. Irgendwas in ihm war abgestorben. Allein wie er aussah, gab zu denken. Gut, er hat nie viel von teurer Kleidung gehalten, aber die Klamotten, die er an hatte, waren wie aus einem Mülleimer gefischt und für die Jahreszeit vollkommen unangebracht. Wer trägt heute noch Rollkragenpullover und das im Sommer? Das war vielleicht Mode in den 70igern. Schwarz musste alles sein, was man trug, und ausschauen musste man, als wäre man krank. Außerdem hatte der Pullover Mottenlöcher, wie mir bei genauerem Hinsehen auffiel. Selbst der Kellner, der ja allerhand gewöhnt ist, hat ihm, wie er hereingekommen ist, einen Blick gegönnt wie: Was tut der da? Was hat der in diesem Lokal verloren? Ich glaube, würde er mich nicht kennen, hätte er ihn aufgefordert, das Lokal zu verlassen. 

Nachdem wir unsere gemeinsamen Erinnerungen mühsam ausgekramt und beinahe lustlos abgespult hatten, schwieg er wieder, und ich wollte mich schon unter einem Vorwand aus dem Staub machen, als er plötzlich einen vollkommen anderen Ton anschlug: Weißt du, das mit den Erinnerungen, das ist so eine Sache. Manchmal glaube ich, dass meine Erinnerungen nichts anderes sind, als Geschichten, die man mir erzählt hat. Das war wirklich ein interessanter Gedanke. He, Kumpel, hat er dann ohne Überleitung gesagt, - ich weiß natürlich nicht mehr wörtlich, was genau er gesagt hat, aber er hatte mich durchschaut - : Ich weiß, dass du auf Kohlen sitzt und dich fragst, was dich geritten hat, mich wieder sehen zu wollen nach so viel Jahren. - Ich geb’s wörtlich wieder, denn ich hab's ja auf Band – ...Du würdest jetzt am liebsten aufstehen und gehen, stimmt's? Du bist enttäuscht, nicht wahr? Du hast dir unser Treffen anders vorgestellt, ich weiß. Hören wir doch auf, uns was vorzumachen. Du hältst mich für einen Loser. Ja, du hast es geschafft. Schreibst deine Kolumnen in der meistgelesenen Zeitung der Stadt. Schreibst Bücher, nach denen man Filme dreht. Bist erfolgreich. Hast dir einen Namen gemacht, wie man so schön sagt. Jetzt sitzt du mir gegenüber, hast dein Aufnahmegerät mit, wie ich dir geraten habe, und wartest auf die Geschichte, die ich dir versprochen habe. Stimmt's? Willst also eine Geschichte hören. Du warst doch immer auf der Jagd nach guten Geschichten? Also pass gut auf! Dabei beugte er sich über den kleinen Tisch, der uns trennte, aber nicht genug, weil mir nun sein vom Alk geschwängerte Atem wie ein nasser Fetzen ins Gesicht schlug:

Bei einem Besuch im Museumsdorf in Niedersulz, einem Weiler im Weinviertel, via Autobahn von Wien aus in einer knappen Stunde erreichbar -, hat mich die Nachbildung einer Landschule aus dem letzten Jahrhundert mit zwei Tafelklassen und Lehrerwohnung am längsten zu verweilen eingeladen. Schon aus beruflichem Interesse, da ich selbst lange Zeit Lehrer war. Es waren weniger die aufgeschlagenen und mit Heileweltbildern illustrierten Fibeln, mit deren Hilfe alphabetisiert wurde, auch nicht der Setzkasten, der Rechenschieber und die anrührenden Schiefertafeln mit den Schwämmchen und Kreiden, auf denen ich ja noch selbst geschrieben habe, - mich hat vor allem das an der Wand hängende Porträt des letzten Kaisers und die große Wandtafel mit der Schulordnung nachdenklich gestimmt. An Schulordnungen nämlich lassen sich auch ohne zeitliche Zuordnung durch gerahmte Amtsträger gesamtgesellschaftlichliche Zustände festmachen, weil sie den Verhaltenskodex spiegeln, mit dem unter Rücksichtnahme auf die Anforderungen der Arbeitswelt Kinder und Jugendliche sozialisiert worden sind.