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Eine alleinerziehende Mutter kommt von der Arbeit nach Hause. Sie sehnt sich nach Ruhe, Abschalten, Ausspannnen. Sie betritt die Wohnung und weiß nicht, ob sie in einen Schreikrampf ausbrechen oder einen Wutanfall bekommen soll. Die Schranktüren sind weit aufgerissen, Schuhe und Kleidung liegen verstreut auf dem Flur, in der Küche stapeln sich dreckiges Geschirr, Coladosen und eine leere Flasche Rum, sie tritt auf Popcorn, auf zerbrochenes Glas: eine Spur der Verwüstung in allen Räumen der sonst gepflegten Altbauwohnung. Sie hat sich für den Schreikrampf entschieden und brüllt:  "Jaaaaaaan!" Ein 1.80 großer Mensch taucht im Türrahmen auf, barfuß, mit roter Hitze im pickeligen Gesicht,  nackt bis auf ein Handtuch mit einer lachenden Sonne drauf. "Was schreist du so rum?", fragt er, der noch vor nicht allzulanger Zeit das "Janchen" und Mamas Liebling war, mittlerweile aber schon bald 16. Während die Mutter die herumliegenden Kleidungsstücke aufklaubt, und sie wütend ihrem Sohn entgegenschleudert, der sie mit einem "Reg dich ab!" in die Stimmung kalter Wut hinein katapultiert hat, huscht eine zerzauste Blondine an ihr vorbei - auch sie bis auf ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift "Zwillinge" auf Busenhöhe - nackt: die 14 jährige Tochter eines befreundeten Arztes, die das Bad sucht, und für Jan noch vor einer Woche eine "dumme, eingebildete Tussi" gewesen ist.

Die Reifen umgesteckt für den Sommer und noch einmal Schnee. Schneidend kalt, aber wunderschönes Wetter. Noch einmal hinaus ins Rheindelta, das ich erst jetzt entdecke. Eine Schande. Vom Hausberg der Bregenzer, vom Pfänder hat man bei klarem Wetter einen Dreiländer-Blick über den Bodensee.  In der   Rheinmündung sieht man künstlich aufgeschichtete Landzungen oder  Dämme, die jedes Jahr weiter in den See hineinragen. Sie können die zunehmende Verlandung nicht verhindern, aber sollen sie verlangsamen.  Ich weiß nicht, ob es Berechnungen gibt, die voraussagen, wann es möglich sein wird, die dem Rheindelta gegenüber liegende Insel Lindau trockenen Fußes zu erreichen. Feststeht, dass das Schwäbische Meer einmal von den Sedimentgesteinen aufgeschüttet sein wird, da der Rhein jährlich 2,5  Millionen Kubikmeter in die Mündung schiebt. [gallery orderby="ID"]

Karwoche ist und heute ein sonniger Frühlingstag, der zu kleinen Ausflügen ins Freie lockt. Der Föhn zoomt die noch immer schneebedeckten Voralpenhänge in eine Nähe, wie sie sonst nur mit optischen Vergrößerungsbehelfen möglich ist. Schweizer Berge vom funkenbühel ausMeine Mutter will, dass wir zu einer Zilli fahren, die in einem Altersheim im Bregenzer Wald wohnt. Sie ist auch Jahrgang 1923, sagt sie, war eine Schulkollegin von mir  und hat uns viel Gutes getan. Auch ich will die Frau kennen lernen, die jahrelang dafür gesorgt hat, dass das Brot nicht bezahlt werden musste, das auf unseren Tisch kam. Es war nach der  Beatzungszeit in den Jahren des Wiederaufbau's, und meine Mutter hat die Nächte in Heim-- und Akkordarbeit mit dem Aufnähen von Sohlen auf Filzpantofffeln und dem Einbordeln von Knopflöchern zugebracht, damit wir Kinder keinen Mangel leiden müssen.

18 Stunden sind vergangen seit der Fruchtblasensprung erfolgt ist, der Arzt ihr ohne Narkose die Nähte entfernte, die den Muttermund verschlossen hielten, und jetzt zwei Monate zu früh die Wehen begannen, welche den Geburtsvorgang einleiten. Er denkt an die vielen Komplikationen und ist froh, dass es nun soweit ist. Wie schnell ihr Herz schlägt. Wie ein Tamburin, das zum Finale trommelt. Wie ein Zug, der durch die Nacht rast. Den nichts mehr und kein Signal aufhalten kann, sich mit dem Stakkato des Toctoc seinem Ziel immer näher weiß. Sie sucht seine Hände. Ihre Nägel schlagen sich in sein Fleisch und er spürt es nicht. Ihr Atem fliegt. In ihren Augen steht Angst: Hilf mir!, flehen sie. Mach, dass es vorbei ist. Schnell. Sein Gleichmut versetzt ihn in Staunen über sich selbst. Er raunt alte Beschwörungsformeln: Es wird alles gut gehen. Glaub mir! Gleich hast du es überstanden. Der Muttermund ist verstrichen. Die Wehe hat nachgelassen. Die Hebamme schließt sie an die Geräte an, schnallt ihr einen Gürtel über den Bauch, auf dem die Schallköpfe für die externe Überwachung angebracht sind. Erbarmungslos tickt der Wehenschreiber. Die Herztöne hämmern wie in dark side of the moon., verebben, schwellen an. Pam – pampam: Eine Mischung aus Walzer und Ragtime. Ein exotischer Rhythmus. Kassiber. Alles nimmt er wahr. Mit übergenauer Deutlichkeit: Die knallhelle Lampe über dem Kreißbett, die mit einem Heftpflaster befestigte Injektionsnadel, die zerstochene Handbeuge, den Schlauch, der von der Nadel zum Wehen fördernden Dauertropf führt, die kalten, gekachelten Wände, die Wanduhr, deren Zeiger gegen Mitternacht vorrücken. Der lichtgrüne Mantel, in den er gesteckt wurde, hebt sein Selbstvertrauen und zaubert ein müdes Lächeln in ihr Gesicht. In wenigen Augenblicken werde ich Vater, denkt er. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Ich könnte fliehen, aber nichts ist weiter als die Ferne zwischen Jetzt und Jetzt. Dazwischen kann ich mich nicht verstecken. Jetzt ist es soweit. Jetzt muss ich mich stellen. Jetzt trennen uns nur noch wenige Augenblicke davon Eltern zu werden. Er ist nicht ruhig. Er tut nur so. Die Wehen haben sich wieder beruhigt, sind fast ganz zum Stillstand gekommen. Eine Traubenzuckerinfusion soll sie wieder zu Kräften bringen. Allerheiligen. Dein Geburtstag. Ich blättere in den Tageszeitungen, lese die Schlagzeilen. Ich will sie dir aufheben. Vielleicht wird es dich einmal interessieren. Vielleicht wirst du gerne einmal wissen wollen, was in der Welt los war, genau an dem Tag, als du auf die Welt gekommen bist. Was die Gemüter erhitzte, unter welchem Stern du geboren wurdest. Apropos Sterne. Mein Horoskop meint, dass ich mich nun mit gewissen Tatsachen abfinden müsse, das der Mutter verspricht eine Überraschung, die sie heute ganz besonders froh machen würde. Außerdem hätte sich etwas ergeben, von dem sie nicht zu träumen gewagt hätte. Was das wohl sein könnte? Und du? Du wirst im Skorpion geboren. Frau Helga rät dir, liebenswürdig zu bleiben, auch wenn dir heute etwas auf die Nerven geht. Hast du gehört, Hannah, meine Tochter? Ja, dein Name steht auch schon fest. Jetzt aber muss es bald so weit sein. Jetzt wird es ernst.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=BW9EeCZMsuA&w=560&h=315] Autor: Helmut Hostnig Musik: Hermann Unterwurzacher Anspruch Es muss sich nicht reimen Und dich nicht trösten Es kann grünes Glas sein Auf der Jagd nach Smaragd Ich will nicht erbauen Was brach,...